Mein Zimmer war klein und einfach, aber gemütlich. Neben dem schmalen Holzbett stand eine Kommode, ein kleiner Sessel und eine Stehlampe. An der gegenüberliegenden Seite des Raumes befanden sich ein Schrank mitsamt Spiegel. Zwar hatte ich nichts an Gepäck mitgenommen, doch, als wäre meine Ankunft schon lange erwartet gewesen, war der Schrank gefüllt mit allem, was man im Frühjahr in Norwegen so brauchen konnte.
Nachdem Viktor mir mein Zimmer gezeigt hatte, führte er mich auch durch das restliche Haus. Dann ließ er sich mit Trym auf dem Sofa nieder und schaltete den Fernseher an. Ich setzte mich daneben, verstand aber kein Wort von dem, was dort gezeigt wurde.
Während Viktor aufmerksam den Worten der Reporterin lauschte, sah ich ihn von der Seite an. Warum war er hier? Wusste er, was Navarro alles getan hatte? Wusste er, dass er mit einem Massenmörder unter einem Dach schlief? Und vor allem, was hatte einen Jungen wie ihn dazu gebracht, seine Familie zu verlassen und vollkommen alleine in den Bergen zu leben?
"Hast du in der Schule Deutsch gelernt?", fragte ich, als der Vorspann einer neuen Sendung auf dem Bildschirm aufleuchtete.
Viktor lehnte sich zurück und fing an, Trym über den Rücken zu streichen.
"Nein, nicht in der Schule. Ich hab es von Gustav und den anderen gelernt. Ich lerne schnell", sagte er stolz.
Sollte ich fragen? Ich hatte immerhin nichts zu verlieren. Eine Weile starrten wir beide stumm auf den Fernseher.
"Wie hast du ihn denn kennengelernt?", traute ich mich endlich.
Viktor zuckte mit den Schultern. "Rede nicht gerne darüber. Ist jetzt Vergangenheit." Mehr sagte er nicht.
"Arin?", rief Navarro genau in diesem Moment aus der Küche. "Kommst du bitte mal?"
Ich schluckte schwer, wappnete mich für das Unausweichliche und ging in die Küche. Navarro stand am Herd, einen dampfenden Topf vor sich.
"Deck doch bitte den Tisch. In fünf Minuten ist das Essen fertig."
Als ich das Besteck aus der Schublade zog, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich durfte nicht vergessen, wer Navarro war, was er war. Ich durfte mich von alldem hier nicht täuschen lassen, nicht, wenn ich das hier heil überstehen wollte. Trotzdem ließ ich mich vom Tischgespräch mitziehen, unterhielt mich mit den beiden über die Fischerbucht in der Nähe, die Hütte und über Trym, der sich neben dem Kamin eingerollt hatte und schlief.
Nach dem Abendbrot räumte Viktor ab, dann waren Navarro und ich alleine am Küchentisch.
"So. Dann fang mal an zu erzählen", sagte er plötzlich und ohne irgendeine Vorwarnung,
"Was?", fragte ich geschockt.
"Wir hatten einen Deal. Ich hab meinen Teil der Abmachung eingehalten. Jetzt bist du dran."
Ich atmete tief durch, dann begann ich. Genau, wie ich es ihm versprochen hatte, erzählte ich Navarro alles. Von meinem Tod, Etenia, Owena bis zum Schwert ließ ich kein Detail aus. Selbst von unseren Erlebnissen im Museum erzählte ich ihm.
Während ich erzählte, schwieg Navarro, nickte nur ab und zu oder schmunzelte.
"Eine Sache hab ich noch nicht ganz verstanden", sagte er, als ich schließlich fertig war. "Wieso genau hat Owena gerade euch zwei geschickt, um mich zu töten?"
Ich zuckte mit den Schultern. "Weil unsere Körper noch unentdeckt im Wald lagen. Weil wir dem Schwert am nächsten waren. Weil wir durch den Tod verbunden waren. Keine Ahnung. Besonders viel hat sie uns auch nicht erzählt, aber ich wollte nicht riskieren, dass sie das Angebot noch zurück nimmt, wenn ich zu viele Fragen stelle."
Navarro schüttelte lächelnd den Kopf. "Meine liebe, liebe Owena. Was zum Henker sollte das hier werden?"
"Gustav?" Es fühlte sich noch immer merkwürdig an, Navarro so zu nennen.
"Ja?"
"Was passiert jetzt mit mir?"
"Sieh mich nicht so ängstlich an. Ich wäre dumm, wenn ich dich zu Owena befördern würde. Nein, ich brauche dich hier. Bei mir."
"Ich habe dir alles erzählt, was ich weiß. Das war die Abmachung."
Wieder lächelte Navarro. "Soll ich dir etwas erzählen? Weißt du, die liebe Owena hat bestimmt einiges für sich behalten, dir wichtige Teile der Wahrheit vorenthalten. Hat sie dir erzählt, das wir beide so etwas wie alte Bekannte sind?"
"Sie hat es nicht erzählt, nein. Aber sie hat so etwas in die Richtung angedeutet."
"Und hat sie erzählt, wie oder noch besser wieso wir auseinander gegangen sind?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Früher oder später", sagte Navarro. "Früher oder später wirst du es noch sehen. Aber für heute hast du bestimmt genug. Wenn du willst, kannst du jetzt in dein Zimmer gehen. Viktor weckt dich morgen fürs Frühstück."
Ich nickte und stand auf.
"Hat das hier überhaupt einen Namen?" fragte ich "Das sind zwei Hütten. Im Nirgendwo."
"Drei. Mach es dir gemütlich."
In meinem neuen Zimmer angelangt, hatte ich endlich Zeit, nachzudenken. Wie merkwürdig die letzten Monate doch gewesen waren. Ich hatte so häufig mein Zimmer gewechselt, dass ich nie richtig zur Ruhe kommen konnte und jetzt musste ich schon wieder von Neuem anfangen. Auch wenn ich selber wusste, wie lächerlich das war, stellte ich den Sessel so unter die Türklinke, dass sie von außen nicht mehr nach unten gedrückt werden konnte und ließ mich erst dann auf dem Bett nieder.
Wo war Lucas wohl gerade? Hatten Navarros Männer ihn zurück nach Hamburg gebracht? Oder war er jetzt vielleicht sogar bei seiner Familie. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er neben seinen Eltern in der Küche saß und Abendbrot aß, doch irgendwie fühlte sich der Gedanke falsch an. Ich wusste kaum etwas über ihn und wie er vor seinem Tod gelebt hatte. Auch wenn wir in den letzten Monaten viel Zeit miteinander verbracht hatten, musste ich zugeben, dass er in dieser Hinsicht ein Fremder war.
Völlig ausgelaugt von den Strapazen der Reise und der ständigen Nervosität, die all das mit sich brachte, schlief ich schließlich ein.
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Etenia
AdventureArin ist gerade einmal 19, als ihr Leben ein plötzliches Ende findet. Sie erwacht an einem wundersamen Ort, ohne Erinnerung an ihren Tod. Gemeinsam mit anderen kürzlich Verstorbenen soll sie nun ihren Tod verarbeiten und sich von ihrem Verlangen nac...