Kapitel 11

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Als ich am Nachmittag von meiner zweiten Stunde mit Erlo zurück kam, wartete Sofia vor meiner Tür.

"Sorry für heute morgen. Colette kann manchmal etwas grob sein."

"Ist schon okay. Willst du ein wenig mit reinkommen?"

Gemeinsam setzten wir uns wieder auf mein Bett und unterhielten uns, über unsere Ankunft, die Gruppentherapie, die anderen Patienten und unser Leben.

All das, was ich bei meiner Ankunft zurückgehalten hatte, sprudelte auf einmal aus mir heraus. Ich erzählte Sofia von meiner Familie, von meinem kleinen Bruder, meinem Studium und meinen Freunden. Sie tat es mir gleich und erzählte ihrerseits von ihrem Leben und all den schönen Dingen, die ihr passiert waren. Selbst als sie von ihrem Tod erzählte, schien sie gefasst, fast, als wäre es nicht ihre eigene Geschichte, sondern die eines anderen.

Zu meinem Tod fragte sie nicht, drängte mich nicht, ihr Details zu erzählen, die ich noch nicht bereit war preiszugeben, doch irgendwann erzählte ich es ihr trotzdem. Zumindest den Teil, an den ich mich erinnern konnte. Es tat gut, endlich loswerden zu können, was ich all die Wochen versucht hatte, in mir zu ersticken. Erst als die Last sich langsam von meinen Schultern löste, bemerkte ich, wie sehr ich es gebraucht hatte, endlich mal mit jemandem reden zu können, der nicht Erlo war.

"Oh, wow", sagte Sofia leise, als ich fertig war. "Das ist echt heftig."

Ich nickte. "Und verdammt dumm."

"Wieso dumm?"

Ich zuckte mit den Schultern. "Wäre ich einfach von Navarro erschossen worden, könnte ich mich wenigstens erinnern. Dann wäre ich jetzt längst weitergegangen."

Sofia sah mich streng an. "Ich bin auch noch nicht weg. Viele sind noch hier. Das ist kein Grund, sich zu schämen."

Ich lachte. "Du klingst, als wärst du Betreuerin hier."

Sofia verdrehte lächelnd die Augen. "Danke?"

"Was machst du eigentlich bei deinen Einzelstunden?", wechselte ich das Thema.

Sofia zuckte mit den Schultern. "Immer mal was anderes. Meistens fangen wir mit einer Gedankenreise an und reden dann über die Gefühle, die diese Erinnerungen bei mir ausgelöst haben. Und am Ende verstauen wir die verarbeitete Erinnerung in dem Wiederholungskasten für die nächste Stunde."

"Gedankenreise?", hakte ich nach.

"Ja, genau, um dem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Macht ihr das nicht? Ich dachte, gerade du hättest das nötig. Entschuldigung, das meinte ich jetzt nicht-"

Ich schüttelte den Kopf. "Alles gut. Vielleicht ist das ja auch genau der Grund, warum wir das nicht machen. Vielleicht funktioniert so etwas bei einer Blockade nicht. Ne, mein Betreuer stellt mir stattdessen jede Stunde mehr oder weniger die selben Fragen, aber das hilft nicht wirklich. Auch nach all den Wochen habe ich mich noch an nichts erinnert, nicht mal ein kleines Detail", sagte ich frustriert.

"Soll ich es dir mal zeigen? Vielleicht bringt es ja doch etwas. Ich meine, kann ja nicht schaden, oder?"

Ich nickte. "Klar, gerne."

"Okay", sagte Sofia und rutschte ein wenig an mich heran. "Schließ die Augen."

Ich gehorchte. Vor mir raschelte es, ein kurzes Klicken ertönte, doch Sofia sagte nichts. Meine Finger fuhren über die Bettdecke und zupften daran. "Meine Betreuerin hat mir das Zeug heute mitgegeben, um selber ein wenig zu üben, aber du kannst es bestimmt besser gebrauchen als ich.

"Wonach riecht es hier?", fragte ich, als mich plötzlich ein merkwürdiger Geruch erreichte. Ich öffnete die Augen.

"Augen zu", sagte Sofia streng. Ich atmete tief ein. Es roch nach Tanne und Moos, irgendwas blumiges dazwischen und leicht rauchig. Wie ein Lagerfeuer mitten im Wald.

EteniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt