Kapitel 17

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Es dauerte gut eine halbe Stunde, bis wir eine befestigte Straße erreichten. Als ich hier noch gelebt hatte, war es mir gar nicht so abgelegen vorgekommen, aber ich hatte schließlich auch nicht versucht, zu Fuß bis zur Stadt zu laufen. Wir überquerten die Straße und liefen, verborgen hinter der ersten Baumreihe, den Straßenverlauf entlang. Es dauerte nicht lange, da wurden meine Beine schwer und meine Füße fingen an, bei jedem Schritt zu schmerzen.

"Wie lange noch?", stöhnte ich und blieb stehen, um mir wenigstens eine kurze Pause zu gönnen.

"Wenn wir uns nicht verirrt haben, sollte in ein paar Kilometern der Bahnhof kommen", antwortete Lucas.

"Wenn, wenn, wenn-", murmelte ich leise und lief weiter.

Wie sich nach einer weiteren Stunde unseres Marsches herausstellte, hatten wir uns in der Tat verlaufen. Noch schlechter gelaunt als ich es nach dem unfreiwilligen Bad heute morgen eh schon war, wanderte ich den gesamten Weg zurück zur letzten Kreuzung und dann in die andere Richtung. Als wir endlich die Stadt erreicht hatten, war die Sonne längst hinter dem Horizont untergegangen.

"Und jetzt?", fragte ich. "Der nächste Zug fährt erst morgen wieder." Ich schnaubte. "Wir hätten echt in der Hütte bleiben sollen."

"Ach komm, eine Nacht schaffen wir", winkte Lucas ab.

"Ich wiederhole mich. Es sind keine drei Grad. Ich hab nicht einmal eine Winterjacke an. Vergiss es."

"Wir sind in einer Stadt. Hier gibt es bestimmt ein Hotel."

"Ich war noch nie in einem so kaffigen Kaff wie dem hier. Guck dir den Bahnhof an." Ich wies mit einem Arm auf den schäbigen Schuppen vor uns, neben dem ein Gleis den Hügel hinunter führte.

"Ich wär ja schon froh, einen zu haben. Da, wo ich aufgewachsen bin, hatten wir- ach egal-"

Lucas musterte den Eingang des Bahnhofs. "Vielleicht finden wir ja ein Hotel. Warte kurz hier. Da ist bestimmt eine Stadtkarte."

Ein paar Minuten kehrte Lucas zurück, einen triumphierenden Ausdruck im Gesicht.

"Bingo. Die Straße runter ist eins."

"Sicher, dass es die Straße ist?", fragte ich und kniff spöttisch die Augen zusammen.

"Weißt du, du bist echt niedlich, wenn du so genervt bist", antwortete Lucas mit einem übertriebenen Lächeln und lief los.

"Niedlich", wiederholte ich flüsternd und folgte ihm. "Pffff."

Das Hotel vor uns war eine heruntergekommene alte Barracke. Anders konnte man es gar nicht bezeichnen. Die Fenster waren teilweise mit Brettern vernagelt, der Eingang mit Graffiti zugesprayt und schon von draußen roch es so, als wäre hier jemand tausend Tode gestorben. Ich wusste leider, wovon ich sprach. Heute morgen hatte ich selber noch so gerochen.

Mit gequältem Gesicht betrat ich hinter Lucas den Eingangsbereich.

"Müssen wir hier hin?", fragte ich leise, während wir auf die alte Empfangsdame vor uns zugingen.

"Ich hab noch 4 Euro und 12 Cent in der Tasche", raunte Lucas zurück. Ohne die Kreditkarte zu benutzen, die vermutlich eh schon längst gesperrt ist, haben wir keine andere Wahl."

Der Eingangsbereich sah genauso aus, wie man es von außen erwartete. Eine schmale Treppe zu unserer linken führte in den ersten Stock, zu unserer rechten führte ein kurzer Gang zum Speisesaal. Die Luft im Raum roch stark nach Chemie und brannte beim Atmen geradezu in der Lunge. Ich blinzelte die Tränen weg, die mir in die Augen schossen, als mich eine besonders beißende Wolke erwischte. Hoffentlich waren die Zimmer hier besser. Doch das bezweifelte ich.

EteniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt