Kapitel 29

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Entgegen meiner Befürchtung stellte Lucas keine Fragen. Vermutlich überraschte es ihn nicht, dass ich nach dieser Darbietung so schnell wie möglich wieder zurück zum Hotel wollte. Während wir die Leiter hinunter stiegen und zum Parkplatz liefen, ratterte es in meinem Kopf. Er war gekommen. Er war wirklich gekommen. Ich hatte ins Dunkle geschossen, ohne Sinn und Verstand die Chance ergriffen. Es war kaum mehr als eine Lügengeschichte, die ich mir selber erzählt hatte um guten Gewissens herkommen zu können. Und nun war es wirklich passiert.

Und was jetzt? Ich hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er tatsächlich auftauchen würde. Sonst hätte ich es auch nicht vor Lucas geheim gehalten. Ich hatte so wenig daran geglaubt, dass ich nicht einmal daran gedacht hatte, das Schwert mitzunehmen. Es lag noch immer im Koffer unter unserem Hotelbett, Stunden entfernt. Selbst wenn wir uns beeilten und sämtliche Verkehrsregeln ignorierten, würden wir nicht zurück sein, bevor die Trauerfeier längst beendet und er über alle Berge war. Und ohne Schwert? Sollten wir versuchen, ihm zu folgen? Konnten wir das überhaupt, ohne dass er uns bemerkte? Oder hatte er das schon?

"Alles okay?", fragte Lucas mich, als wir den Parkplatz erreichten.

Ich warf einen schnellen Blick über meine Schulter. Fast erwartete ich, ihn dort stehen zu sehen, doch weit und breit war keine Menschenseele.

"Alles okay", bestätigte ich. Ich biss mir nervös auf die Zunge. Beenden konnten wir unseren Auftrag ohnehin nicht ohne das Schwert. Die Liste an Dingen, die schief laufen konnte, war allerdings lang. War es das Risiko wert, Navarros Wohnort zu finden, wenn wir dadurch aufs Spiel stellten, von ihm entdeckt zu werden? 

Wir erreichten das Auto. Jetzt oder nie.

"Lucas?", fragte ich.

"Was?"

Lucas kramte den Autoschlüssel aus seiner Tasche und betätigte den automatischen Türöffner.

Ich sah mich noch einmal um. Navarro oder das Schwert? Das Schwert oder Navarro?

Und so wie das häufig der Fall war, wenn man nicht schnell genug eine Entscheidung traf, entschied die Zeit für mich, undzwar dafür, gar nichts zu tun. Denn in diesem Moment kamen die ersten Gäste aus dem Haupttor und zwangen Lucas und mich zur Flucht. Schnell sprangen wir ins Auto und fuhren los.

Auf der Fahrt waren wir beide so sehr in unsere Gedanken vertieft, dass wir erst wieder miteinander redeten, als die Hotelzimmertür hinter uns ins Schloss fiel. Völlig erschöpft schlufte ich den Gang entlang zu unserem Zimmer.

"Hast du auch so Hunger?", fragte Lucas mich und legte sich zur Betonung die Hände auf den Bauch.

"Wie viel Uhr ist es?", fragte ich.

Lucas sah auf seine Uhr. "Halb acht. Buffet ist bis acht. Schaffen wir noch, wenn wir uns beeilen. Sonst müssen wir Pizza bestellen oder so."

"Okay. Geh du schonmal vor, ich muss mich noch schnell umziehen."

Lucas nickte und verließ das Zimmer. Wie angekündigt striff ich mein schwarzes Kleid ab, tauschte die Strumpfhose mit einer dunklen Jeans und zog einen gemütlichen Pullover darüber. Vielleicht war es nicht die Art von Outfit, die man in einem Hotel wie diesem trug, doch gerade war es mir ziemlich egal, was all die reichen Schönlinge im Speisesaal von mir dachten. Ich hatte heute schon genug durchgemacht.

Als ich fertig umgezogen war, ging ich noch schnell ins Bad, um meine Haare zu einem Zopf zu binden, dann folgte ich Lucas in den Speisesaal.

Ich war keine drei Meter gegangen, da sah ich ihn auch schon. Wie wild geworden sprintete er auf mich zu, seine Anzugjacke in der einen Hand, die Zimmerkarte in der anderen.

EteniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt