Kapitel 16

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Ein kalter Wassertropfen traf auf meine Stirn. Ich wischte ihn mir aus dem Gesicht und sah nach oben. Er war von dem Rand des Daches über mir getropft. Ich lächelte und setzte meinen Weg fort. Der Winter endete endlich und die Sonne verwandelte den Schnee in eiskaltes Tauwasser. Grünwald verschwand nun nichtmehr unter einer glatten weißen Decke. Ich konnte den Sommer kaum erwarten. So viele Abenteuer würden auf mich und den Rest der wilden Kerle warten und ich konnte es kaum erwarten, sie alle zu erleben. Doch all diese Sommerabenteuer und das Träumen von unendlichen Möglichkeiten mussten noch warten, denn jetzt war ich auf dem Weg in den Teufelstopf. Das erste Mal in diesem Jahr würden wir endlich wieder zusammen Fußball spielen können. Ich war bereits am Ortsausgang von Grünwald angelangt. Mein Heimatsort wurde von den kahlen Bäumen und Büschen abgelöst, die einsam und verloren dastanden. Doch dieser traurige Anblick verdarb mir keineswegs die Freude, denn ich wusste, dass wir dem Wilde-Kerle-Land schon bald neues Leben und seine altbekannten bunten Farben einhauchen würden. Langsam stapfte ich den matschigen Hügel vor dem Hexenkessel aller Hexenkessel hinunter. Von den anderen wilden Kerlen gab es weit und breit noch keine Spur, weswegen ich vorsichtig den Teufelstopf abging. Doch schon nach ein paar Minuten konnte ich die fröhlichen Stimmen von Leon, Marlon und Vanessa ausmachen. Kurze Zeit später schlossen sich ihnen auch Joschka und Raban an und nach fünf Minuten standen wir alle aufgeregt und energiegeladen in der Mitte des Teufelstopfes. „Worauf warten wir noch? Dampfender Teufelsdreck, lasst uns spielen, sonst frieren wir hier noch fest.“, warf Markus nun grinsend, aber bestimmt ein. Das ließen wir uns garantiert nicht zweimal sagen. Im Handumdrehen standen wir in unseren Teams auf dem Feld. Zu meiner Mannschaft gehörten Nerv, Maxi, Vanessa und Joschka, der endlich auch wieder Fußball spielen durfte. Das andere Team bestand aus Raban, Leon, Marlon und Markus. Sie bekamen den Ball auch zuerst, da sie nur zu viert waren. Leon passte das pechschwarze Leder zu Marlon und der dribbelte es übers Feld. Anschließend wollte er zu Raban schießen, doch sein knallharter Schuss wurde von einer Pfütze abgebremst und von Maxi angenommen. Der passte jetzt zu Joschka, doch der schwarzhaarige Junge rutschte auf dem matschigen Boden aus und fiel in den Schlamm. Marlon bekam den Ball jetzt. Dieses Mal schaffte er es, das Leder zu Raban zu passen. Doch dieses Mal schoss der rothaarige Junge mitten auf eine Pfütze. Der Ball blieb darin liegen und segelte gemächlich auf dem Wasser. „Hippopotamus-Bullen-Propeller-Schwanz-Mist“, schimpfte Raban, „So können wir doch nicht spielen. Die Pfützen ruinieren alles.“ Doch Vanessa grinste nur: „Wir sind die wildeste Fußballmannschaft der Welt. Und Pfützen sollen uns aufhalten? Schitte nochmal!“ „Vanessa hat Recht. Wenn der Ball von den Pfützen aufgehalten wird, dann müssen wir ihn halt über sie herüber spielen. Das Tauwetter wird uns ganz sicher nicht davon abhalten, Fußball zu spielen.“, verstand nun auch Maxi. „Verflixt, jetzt hört doch auf zu reden!“, schrie Nerv, rannte aus dem Tor und klaute den Ball, während unser Gegnerteam lautstark protestierte, „Ihr seid selbst schuld. Wenn ihr hier ein Kaffeekränzchen veranstalten wollt, solltet ihr zu meiner Mutter gehen.“ Wir setzten das Spiel fort und tatsächlich bewies sich „Tippkicks“ Strategie als sehr sinnvoll. Wir spielten wilder denn je und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich tatsächlich behauptet, dass die ganze Welt wegen unseres Fußballspiels in neue Farbe getaucht worden war.

Zitternd pustete ich in meine kalten Hände. Die lauwarme Sonne, die den Schnee aufgetaut hatte, war hinter dichten Wolken verschwunden. Obwohl wir uns während des Fußballspiels viel bewegt hatten, sog die Kälte nun bis in unsere Knochen. „Ich halte das nicht mehr aus!“, sprach Joschka nun jammernd all unsere Gedanken aus, „Wenn ich nicht bald ins Warme komme, werde ich noch zu einem Eisblock.“ „Wie wäre es, wenn wir unser Treffen nach Camelot verlegen?“, warf Marlon jetzt ein und wir alle stimmten seiner Idee dankbar zu. Gemeinsam passierten wir einige Straßen Grünwalds. Und obwohl sie nicht mehr unter der weißen Schneedecke begraben waren, war es beinahe totenstill um uns herum. Deswegen hörte ich nun auch einen seltsamen Laut, der aus ein paar Metern hinter uns kam. Ich dachte mir nichts dabei, da es sich vielleicht um einen Vogel handelte, der auf der Suche nach einem Vogelhaus war, doch nach ein paar Sekunden wiederholte sich das fremde Geräusch. Ich blieb verwirrt stehen: „Hört ihr das auch?“ Die anderen lauschten leise und wieder ertönte der Laut. Er klang beinahe wie ein Wimmern. Vorsichtig drehten wir um und näherten uns der Quelle dieses Geräusches. Es klang aus einem kahlen Gebüsch, das nun vor uns lag. Raban schob langsam ein paar der Äste zur Seite und riss den Mund auf. Vor unseren Augen lag zusammengekauert ein braun-weißer Border Collie und schaute uns mit großen traurigen Augen an. Wir alle knieten uns vor ihm nieder und begannen ihn vorsichtig aus dem Gebüsch zu befreien. Ängstlich schaute uns die junge Hündin an, als sie kurze Zeit später in unserer Mitte stand. Er jetzt fiel mir auf wie verknotet und verfilzt ihr dickes Fell war. Und trotzdem konnte ich sehen, wie sich darunter ihre Knochen abzeichneten. Mir wurde schlecht, als ich realisierte in was für einem schlechten Zustand das arme Tier war und an den Blicken der anderen konnte ich erkennen, dass sie nicht weniger geschockt waren als ich. „Denkt ihr, sie wurde ausgesetzt?“, hauchte Nerv ohne seinen Blick von der Hündin abzuwenden. Vanessa entgegnete etwas lauter, aber dennoch ruhig: „Ich habe keine Ahnung, aber sie hat sicherlich keinen Besitzer. Wenn sie weggelaufen wäre, hätten wir doch davon gehört.“ „Egal was passiert ist, eins steht fest.“, entschied Leon nun, „Wir können sie hier sicherlich nicht zurücklassen.“ Wir alle stimmten ihm zu und beschlossen die Hündin zu Leon und Marlon nach Hause zu bringen, da die beiden schließlich Socke und den passenden Zubehör für einen Hund besaßen. Als wir aufstanden und unseren Weg fortsetzen wollten, folgte uns der Border Collie tatsächlich, doch uns fiel schnell auf, dass er humpelte. Er schien an seinem linken Vorderbein verletzt zu sein, weswegen Leon ihn auf den Arm nahm und vorsichtig trug. Zu unserer Überraschung hielt die Hündin ganz still und gab nicht einen Laut von sich. Vielleicht wusste sie, dass wir ihr helfen würden. Nach einer Ewigkeit kamen wir endlich an unserem Ziel an. Leons und Marlons Vater öffnete uns sogar direkt die Tür, als wir klingelten, aber als er den Hund zu unseren Füßen sah, schnappte er entsetzt und wütend nach Luft. Doch für Wut war jetzt keine Zeit, weswegen wir begannen, ihm unser Erlebnis detailliert zu schildern. Der misstrauische Blick des Eisverkäufers und Malers verwandelte sich wie auf magische Weise in Mitleid. „Wisst ihr was? Am besten fahre ich gleich mit ihr zum Tierarzt, die können am besten handeln und sich ihren Zustand genauestens ansehen.“, gab er nun zu und schaute dann in die Runde, „Und ihr geht jetzt am Besten nach Hause. Es ist schließlich schon spät.“ Wir alle nickten brav, obwohl wir wussten, dass wir genau das nicht tun würden. Sobald das Auto von Marlons und Leons Vater aus unserem Blickfeld verschwunden war, setzten wir uns auf die Treppenstufen vor der Haustür und schwiegen ängstlich. Socke gesellte sich zu uns und Marlon kraulte ihn zwischen den Ohren. Er brach das Schweigen lächelnd: „Ich hoffe, wir können sie behalten.“

~Meine Beine, meine Seele~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt