Kapitel 30

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Die Sonnenstrahlen kitzelten mein Gesicht und kündigten den Tag an, doch ich war schon längst wach. Ich hatte beobachtet, wie der Schatten der großen Kastanie, die in unserem Garten stand, immer weiter durch mein Zimmer gewandert war. Auch den ersten Liedern der Vögel hatte ich schon gelauscht, während der Wind sich in eine sanfte Brise verwandelt hatte. Ich hatte immer wieder die Augen geschlossen und versucht den Weg in das Land der Träume zu finden, doch ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Mein Herz pochte vor Vorfreude und Aufregung doppelt so schnell in meiner Brust. Endlich klopfte es und ich sprang innerhalb einer Millisekunde auf und riss meine Zimmertür so schnell auf, dass ich einen Windstoß erzeugte, der fast meine kleine Schwester umgeblasen hätte. Deswegen nahm ich sie jetzt schnell auf den Arm und strich ihr vorsichtig durchs Haar: „Guten Morgen, ich habe schon sehnsüchtig auf ein Zeichen von euch gewartet.“ „Kayla hätte dich am liebsten direkt aufgeweckt, aber wir mussten schließlich noch viel vorbereiten.“, grinste Andrik nun, der sich ans Treppengeländer lehnte, und umarmte mich dann, „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Yara.“ Ich lächelte und machte mich schließlich auf den Weg ins Esszimmer. Dort erwarteten mich meine Eltern bereits. Ich staunte, denn der ganze Raum war geschmückt mit Girlanden in schwarz und orange. Auf dem Tisch hatte sich eine ganze Berglandschaft aus Geschenken gebildet und in ihrem Tal prangte eine Wilde-Kerle-Geburtstagstorte mit fünf Kerzen, von der die Größte in der Mitte leuchtete. Meine Familie begann lauthals ein Ständchen zu singen, sodass es bestimmt ganz Grünwald hören musste. Ich setzte meine kleine Schwester ab, die sich bis jetzt noch an mich gekuschelt hatte. Sofort lief sie los und zog mit ihren Fingerspitzen eine Karte vom Esszimmertisch, die sie mir stolz hinhielt. Auf dem hellgrünen Papier war ein Blumenstrauß zu erkennen. Einige Blüten waren selbstgemalt, andere bestanden wiederum aus bunten Handabdrücken. Nur die Stiele waren von meiner Mutter dazugezeichnet worden. „Alles Gute!“, grinste sie, als ich ihr Geschenk staunend annahm und mich bedankte. Von Andrik bekam ich anschließend eine Kette mit einem Fußballanhänger und ein Traumfängerbastelset, während meine Eltern mir ein nigelnagelneues Tastenhandy, eine Staffelei mit zwei Leinwänden, Kalligraphiestifte und zahlreiche Bücher schenkten. Nachdem ich alles ausgepackt und mich unzählige Male bedankt hatte, blies ich die leuchtenden Kerzen aus. Ich kniff die Augen zusammen und wünschte mir ganz fest, dass alles genauso bleiben würde, wie es gerade war, denn so war es einfach perfekt. Aber das dachte ich natürlich nur, denn wenn man seinen Wunsch aussprach, verfiel seine Wirkung augenblicklich. Das wusste schließlich jedes Kind.

Der Ton der Türklingel hallte durch das Haus bis in den Garten, in dem ich gerade stand und die letzten Vorbereitungen tätigte. Aufgeregt sprintete ich los und kam noch vor meinem Vater an der Haustür an. Außer Atem öffnete ich sie. Vor mir standen meine Gäste mit einem weiteren Geschenk in der Hand und überschwemmten mich regelrecht mit Glückwünschen. Fröhlich bat ich sie herein und führte sie vorbei an der Küche und dem Wohnzimmer, durch das Esszimmer und die Terrassentür bis in den Garten, in dem eine riesige Picknickdecke lag. Diese war mit verschiedensten Leckereien übersäht und wartete schon auf uns. Ich kniete mich nieder und die wilden Kerle versammelten sich um mich herum. Raban übergab mir lächelnd das Geschenk, das ich sofort ungeduldig aufriss. Zum Vorschein kam ein schwarzer Rucksack, der mit dem Wilde-Kerle-Logo bedruckt war. „Los, öffne ihn.“, forderte Joschka mich auf. Ich folgte seiner Anweisung und entdeckte eine orange Flasche, auf der „Alles ist gut, solange du wild bist!“ in schwarzer Schrift stand. Auch ein schwarzes Kunstlederportemonnaie mit einem silbernen „Y“-Anhänger lag in der Tasche und ein kleines Notizheft fand ebenfalls seinen Platz. In einer kleinen Innentasche steckte ein pechschwarzer Brief, den ich beinahe übersehen hätte. Ich nahm ihn heraus und öffnete ihn vorsichtig. In ihm steckte eine orange Karte, die ich aufgeregt öffnete. Ein kleines Blatt flog auf meinen Schoß und als ich daraufsah begannen meine Augen zu leuchten. Den in meiner Hand hielt ich ein Tagesticket für einen Freizeitpark in der Nähe Münchens. Die Karte, die ich danach las, sprach: „Liebe Yara, wir wünschen dir alles Gute zum Geburtstag. In den Herbstferien werden wir bestimmt einmal Zeit finden, um zusammen in den Bayern-Park zu gehen und die vielen Attraktionen auszuprobieren. Wir freuen uns schon! Die wilden Kerle“ Ich staunte: „Vielen Dank! Das ist wirklich das wildeste Geschenk.“ „Beim sternschnuppenfunkelnden Drachenschleim!“, erwiderte Nerv nun mit vollem Mund, während er auf die selbstgebackenen Apfeltaschen meiner Mutter zeigte, „Die sind noch viel wilder.“ Wir brachen in Gelächter aus und bedienten uns schnell an dem Essen, damit Maxis kleiner Bruder uns nicht alles wegessen konnte.

Ich winkte den wilden Kerlen, als sie auf ihre Motocross Maschinen stiegen und davonfuhren. Die Sonne sank bereits tiefer und zog die Schatten länger. Maxi, der bis eben noch etwas an seinem Gefährt geschraubt hatte, schaute jetzt auf und grinste mich an: „Jetzt wo die anderen weg sind kann mein Plan endlich gestartet werden.“ „Welcher Plan?“, gab ich überrascht zurück und „Tippkick“ erwiderte „Naja, es handelt sich eher um eine Überraschung. Komm mit!“ Mein Herz begann zu flattern wie ein Kolibri und ein Lächeln schlich sich heimlich auf meine Lippen. Ich folgte Maxi, doch der drehte sich plötzlich abrupt um und kramte in seiner Hosentasche: „Das hätte ich beinahe vergessen. Du sollst schließlich nicht die Überraschung erraten, bevor du sie überhaupt gesehen hast.“ Mit diesen Worten band er mir ein dunkelblaues Tuch um den Kopf, sodass ich wirklich nichts mehr sehen konnte. Dann nahm er vorsichtig meine Hand und begann zu laufen. Ich stolperte hinter ihm her: „Verflixt, wenn du so schnell gehst hast du mich nach fünf Metern verloren. Dann liege ich nämlich hinter dir auf der Straße.“ Der braunhaarige Junge lachte und verlangsamte seine Geschwindigkeit. Nach fünfzehn Minuten wurde der Untergrund immer weicher und es roch nach Tannennadeln. Die Vögel sangen lauter und der Wind pfiff Melodien. Mittlerweile waren „Tippkick“ und ich ein gutes Team geworden und kamen immer schneller voran. Doch je näher wir unserem Ziel kamen, desto nervöser wurde ich. Der Kolibri in mir flatterte so schnell, dass ich dachte, ich müsste gleich abheben und davonfliegen. Doch Maxi hielt mich wie ein Anker am Boden und drückte meine Hand leicht. „Wann sind wir endlich da?“, traute ich mich jetzt zu fragen, doch ich bekam keine Antwort. Stattdessen zog mein Begleiter mich näher zu sich heran und führte mich vorsichtig weiter. Wieder wurde der Boden weicher, doch den Wind ließen wir nun hinter uns. Meine Hand wurde losgelassen und ich war für 37 Sekunden ganz allein. Dann stellte Maxi sich hinter mich und lockerte langsam meine Augenbinde. Neugierig riss ich meine Augen auf und Licht schwappte mir entgegen. Meine Kinnlade klappte herunter, als ich begriff wo wir waren. Vor mir stand die riesige Eiche, an der Maxi und ich vor einigen Jahren unsere Schaukeln befestigt hatten. Der Stamm des Baumes war in eine Spirale aus zwei Lichterketten gewickelt und auch die Seile der Schaukeln waren mit ihnen geschmückt. Ich drehte mich um und fiel „Tippkick“ um den Hals. „Gefällt es dir?“, fragte dieser, während er mich an sich herandrückte und ich entgegnete immer noch fassungslos: „Ist das dein Ernst? Ich liebe es!“ Maxi zog einen Gutschein aus der Hosentasche: „Das habe ich auch noch für dich. Ich dachte, wir könnten vielleicht zusammen ins Kino gehen. Also nur wenn du willst natürlich.“ „Ja, das wäre wirklich toll.“, freute ich mich, stellte mich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange, woraufhin er errötete. Anschließend setzten wir uns auf unsere Schaukeln und schwangen durch die Luft. Ich fühlte mich, als würde ich schweben. Die Lichterketten verschwammen zu einem Lichtermeer und die kühle Nachtluft strich um mich herum. Plötzlich hielt Maxi neben mir abrupt an und fuhr sich nervös durch seine Haare. Ich kam auf der anderen Seite ebenfalls zum Stehen. Erst jetzt fielen mir die vielen Glühwürmchen auf, die um uns herumschwirrten und die Lichter tanzen ließen. Ich grinste: „Na, hast du etwa noch eine Überraschung für mich?“ „Nein, aber…“, entgegnete „Tippkick“ leise und war plötzlich ganz ernst. Mir gefror das Blut in den Adern und ich kam endlich wieder vollständig auf dem Boden an. „Was ist los?“, fragte ich besorgt und stand auf. Maxi streckte seine Hand zu mir aus: „Komm bitte zu mir.“ Der Junge mit den tiefbraunen Augen zog mich unsicher auf seinen Schoß und ich legte meinen rechten Arm um ihn. Zittrig streichelte ich über seinen Rücken, während er versuchte seine Gedanken in Worte auszudrücken: „Ich habe vor allem die letzten Nächte viel nachgedacht, Yara. Über uns, meine ich. Oder über unsere Beziehung. Wir haben uns in Ragnarök das erste Mal geküsst und uns gesagt, dass wir uns lieben. Aber was genau heißt das? Ich habe das Gefühl, als würden wir zwischen Liebe und Freundschaft feststecken. Sind wir jetzt ein Paar? Ich war noch nie zuvor in einer Beziehung. Ich weiß nicht, wie das funktioniert.“ „Tippkick“ schüttelte verwirrt seinen Kopf, um einen neuen Versuch zu starten, doch er gab schließlich auf: „Verflixt, Yara, was ich fragen will ist: Willst du meine Freundin sein?“ Wieder hob ich ab und dieses Mal flog ich höher als je zuvor. Ich ließ alles hinter mir und sah nur noch Maxi. Wie verrückt begann ich zu nicken, während meine Wangen vor Aufregung die Farbe von Rosenblättern annahmen. Ich war mir beinahe sicher, dass ich träumte. Dieser Tag konnte einfach nicht mehr besser werden. Da zog der Junge mit dem berühmten lautlosen grinsenden Lächeln, mein Freund, mich zu sich heran, legte seine Lippen auf meine und holte mich zurück in die wirkliche Welt. Wir lösten uns voneinander und sahen uns lachend in unsere leuchtenden Augen. Doch Maxis tiefbraune Augen wurden vor all der Liebe, die ich in ihnen vernahm, jetzt noch viel dunkler. Er zog seinen silbernen Ring mit der Inschrift „Für immer wild“ von seinem warmen Finger und nahm schließlich meine kalte Hand. Vorsichtig schob er das Schmuckstück auf meinen Mittelfinger, da es mir nur dort passte und sah mir tief in die Augen: „Damit du niemals vergisst, wie sehr ich dich liebe.“ Ich war so gerührt, dass ich kurz aufschluchzte und sich schlagartig Tränen in meinen Augen sammelten. Doch damit diese nicht überliefen küsste Maxi mich erneut bis alle Emotionen zu einem großen Gefühl verschmolzen: unendlicher Liebe.

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