Meine blonden Haare wehten im kühlen Herbstwind, während ich über den blätterbedeckten Waldweg außerhalb Grünwald radelte. Neben mir fuhr der Rest der wilden Kerle und unterhielt sich glücklich. Unser Ziel war ein Krankenhaus im Südwesten Münchens, in dem wir Joschka besuchen wollten. Nachdem er vor ein paar Tagen nach seinem Unfall im Sportunterricht ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte sich herausgestellt, dass sein rechtes Schienbein gebrochen und er damit fürs Erste außer Gefecht gesetzt war. Eigentlich war er das zumindest. Aber wir wären nicht die wilden Kerle, wenn wir keinen Plan geschmiedet hätten, um das zu umgehen. „Die nächste Straße links, dann nochmal links abbiegen und dann sind wir da.“, rief Leon uns von der Spitze der Gruppe zu. Ich hoffte, dass unser Plan aufging. Schließlich wusste nicht einmal Joschka davon und er musste auch weiterhin geheim gehalten werden. Vor uns erschien endlich unser Ziel. Leon bog in einen kleinen Kiesweg, der neben dem Krankenhaus entlangführte, und wir folgten ihm. Wir hatten Glück, dass die Umgebung um das Gebäude relativ frei und natürlich gestaltet war, sodass wir unsere Fahrräder hinter einem Baum und ein paar Büschen verstecken konnten. Selbstbewusst traten wir durch den Haupteingang der Klinik und gingen auf den Empfang zu. Eine junge Frau lächelte uns gekünstelt an: „Guten Tag, was kann ich für euch tun?“ „Wir sind hier um Joschka Reik zu besuchen.“, brachte Leon es direkt auf den Punkt, ohne auf den abwertenden Ton der Dame zu achten. „Ich kann euch gerne zu ihm bringen.“, mischte sich eine Arzthelferin nun ein, „Ich habe gerade sowieso nicht so viel zutun.“ Unser Anführer nickte ihr zu und wir folgten der Frau.
„So, da wären wir.“, lächelte die Arzthelferin und deutete auf eine Tür zu unserer Rechten. Wir bedankten uns bei ihr und Nerv riss die Tür auf. „Hast du uns schon vermisst?“, rief Markus lachend. Joschka, der gerade aus dem Fenster geschaut hatte, fuhr erschrocken herum: „Terrortouristischer Bärenbauchspeck, habt ihr mich erschreckt.“, grinste er, „Aber nun erzählt mir, was ich in den letzten Tagen alles verpasst hab.“ „Dazu bleibt keine Zeit.“, warf ich ein. Der schwarzhaarige Junge sah mich verwirrt an: „Was meinst du?“ „Das erklären wir dir schon noch.“, lächelte Maxi und Marlon ergänzte: „Genau, aber jetzt müssen wir los, komm mit.“ Joschka nahm seine Krücken und humpelte mit seinem eingegipsten Bein hinter uns her, während wir uns auf den Weg zum Ausgang machten. Gerade, als wir wie nach Plan aus dem Krankenhaus herausmarschieren wollten, wurden wir zurückgerufen: „Wo wollt ihr hin?“ Eine strenge Ärztin stand nun direkt vor uns und guckte prüfend auf uns herab. „Hottentottenalptraumnacht, w-wir wollten zum… Teufels-“, fing Raban panisch an zu stottern, doch Marlon trat ihm auf den Fuß, sodass er verstummte und verbesserte: „Wir wollten uns nur auf eine der Bänke neben dem Krankenhaus setzen. Das Wetter ist einfach zu schön, um nur in seinem Zimmer zu sitzen.“ Wir alle nickten eifrig und zeigten unser unschuldigstes Lächeln. Die Ärztin schaute uns ein letztes Mal streng an, nickte dann aber und ließ uns allein. Erleichtert schauten wir uns an und verließen die Klinik. Wir entfernten uns langsam ein paar Meter, sodass wir für alle anderen außer Sichtweite waren. Dann nahm Marlon Joschka Huckepack, Raban und Markus nahmen seine Krücken und wir sprinteten zu unseren Fahrrädern. Schließlich setzte die Nummer 10 die siebte Kavallerie ab und der schwarzhaarige Junge kletterte in den Beiwagen seines eigenen Fahrrads, das wir zuvor bei ihm Zuhause abgeholt hatten. Wir verstauten die Krücken, schwangen uns auf unsere Fahrräder und rasten los. Mit aller Kraft traten wir in die Pedale und verließen München wieder. Während wir durch den orangeroten Wald in Richtung Grünwald fuhren, durch dessen Blätterdach die letzten lauwarmen Herbstsonnenstrahlen schimmerten, beobachtete ich wie alle anderen Joschka, der vor Freude jauchzte und dessen Augen leuchteten. Ich spürte einen Blick auf meinem Rücken und drehte mich um. Das Augenpaar, das mich die ganze Zeit beobachtet hatte, gehörte Maxi, der sich nun sofort abwandte und in sich hineingrinste. Ich wurde rot und alles in mir kribbelte vor Aufregung.
Wir passierten den Berg vor dem Teufelstopf und stiegen schließlich von unseren Fahrrädern. „Lasst uns spielen!“, verkündete Leon feierlich. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen, also stürmten wir aufs Spielfeld. Joschka saß am Spielfeldrand und feuerte uns lauthals an. Anfangs warf er noch begeistert den Ball ein, wenn dieser im Aus landete, doch da dies nicht allzu oft passierte, saß er irgendwann nur noch mit trüben, traurigen Augen da. Ich konnte verstehen, dass es ihm schwerfiel glücklich zu sein, während alle seine Freunde so einen Spaß am Fußballspielen hatten und er nur von außen zusehen konnte. In dieser einen Sekunde, in der ich abgelenkt war und Joschka beobachtet hatte, wurde mir der Ball zugespielt. Ich realisierte dies zu spät und Leon rannte auf mich zu. Ich versuchte den Ball wegzukicken, doch der Slalomdribbler holte aus und zog meine Beine unter mir weg, sodass ich hinfiel. Maxi sprintete sofort zu mir. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er mit vor Sorge großen Augen. Ich lächelte und nickte, woraufhin er vorschlug, einen Elfmeter zu spielen. Wir alle stimmten zu. „Joschka“, rief ich, „Wie wäre es, wenn du den Ball schießt?“ Der Junge sprang begeistert auf und humpelte auf uns zu. Er stelle sich vor den Ball, stützte sich auf seine Krücken und schoss mit seinem linken Fuß direkt in die untere linke Ecke des Tors. Markus hatte keine Chance das Leder aufzuhalten, sodass es ins Netz rollte. Wir alle jubelten und entschieden, auf Camelot weiterzufeiern, da wir alle ziemlich erschöpft vom Spielen waren.
Dieses Mal nahm Leon Joschka Huckepack und kletterte die Leiter von Camelot hinauf. Wir setzten uns in einem Kreis auf den Boden des Baumhauses. „Was würde ich nur ohne euch machen?“, grinste Joschka, „Ihr habt mir wirklich den Tag gerettet.“ „So sind wir eben.“, erwiderte Nerv so selbstbewusst, dass wir alle lachen mussten. Die Sonne näherte sich dem Horizont, als wir Schritte unter uns hörten. Jemand kletterte die Leiter zu Camelot hinauf und schließlich stand Frau Reik in Julis und Joschkas Baumhaus. „Sagt mal, spinnt ihr eigentlich?“, fragte sie uns entgeistert, als sie Joschka erblickte. „Du hättest mich auch netter begrüßen können, Mami.“, grinste Joschka nun, doch seine Mutter brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen: „Das Krankenhaus hat gerade hier angerufen und berichtet, dass du anscheinend nicht mehr dort bist. Es hätte alles mögliche passieren können. Wenn ich das euren Eltern erzähle…“ „Aber Frau Juli-Joschka“, fing Nerv an, „Verstehen Sie uns doch. Fußball ist für Joschka sein Leben.“ „Genau!“, entgegnete jetzt auch Markus, „Also ging es praktisch um Leben und Tod.“ „Das müssen Sie doch verstehen.“, bettelte Raban. Frau Reik schmunzelte: „Was soll ich nur mit euch machen? Vermutlich sollte ich euch eher dankbar sein. Schließlich seid ihr die treuesten Freunde, die Joschka je hatte. Und jetzt komm schon.“ Sie blickte zu ihrem Sohn und half ihm die Leiter von Camelot herab, bevor sie ihn zur Klinik zurückbrachte. Der Rest von uns blieb noch so lange im Baumhaus, bis schon die Sterne am Himmelszelt funkelten und Frau Reik längst wieder zurückgekommen war.
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~Meine Beine, meine Seele~
Fanfic„Denkst du das ist Seelenverwandtschaft? Wenn Schweigen mehr ausdrückt als Worte es jemals könnten und wenn man weiß, dass man niemals allein ist. Wenn die Liebe und Fürsorge einer einzigen Person einen vor dem Ertrinken schützt und wenn ein Blick v...