Kapitel 14

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Ich stürmte die Treppe hinab und riss aufgeregt  die Haustür auf. Vor ihr standen Markus, Maxi, Nerv und Raban, mit denen ich heute verabredet war. Während sie im Eingangsbereich ihre Jacken und Schuhe auszogen, ließ meine Mutter bereits die Leiter zum Dachboden herab. Sie wollte all die Kisten mit unzähligen Dingen aussortieren und hatte uns vorgeschlagen zuvor zu gucken, ob wir etwas davon behalten wollten. Natürlich hatten wir dieses Angebot sofort angenommen und kletterten jetzt nacheinander die Leiter zum Dachboden herauf. Oben angekommen drückte ich auf einen Lichtschalter, sodass die Lampen über uns erst flackerten und schließlich den Raum erhellten. Mehrere Dutzend Kisten, Taschen und Säcke lagen vor uns. Nachdem wir für einige Sekunden sprachlos dagestanden hatten stürzten wir uns neugierig auf die verstauten Dinge. Ich schaute vorsichtig in eine der Taschen. Ich fand das alte Portemonnaie meiner Mutter, in dem leider kein Geld mehr war. Dafür lag ein zusammengefaltetes Blatt in einem der Fächer. Ich öffnete es und erblickte ein altes, zerknittertes Foto, auf dem meine Eltern, Andrik und ich alle glücklich in die Kamera lächelten. Ich war auf diesem Foto gerade einmal vier Jahre alt und meine kleine Schwester war natürlich noch nicht geboren worden. Ich drehte das Foto um, auf dessen Rückseite in der Schrift meines Vaters „Ich liebe euch.“ stand. Lächelnd faltete ich das Bild wieder und steckte es in meine Hosentasche. „Schaut mal, was ich gefunden habe.“, grinste Raban und hielt eine venezianische Maske vor sich, die seine obere Gesichtshälfte verdeckte. Nerv hielt eines meiner alten Stofftiere in die Luft: „Ich hab das hier gefunden.“ Maxi las in einem alten Kinderbuch von Andrik und schmunzelte. „Wow“, unterbrach uns Markus plötzlich staunend, „Schaut euch das an.“ Er hielt eine Kette, an der ein Haizahn baumelte, hoch. „Die ist echt wild.“, erwiderte Nerv mit aufgerissenen Augen. Wir fanden Schmuck aller Art, Fotobücher, alte Spielsachen und Kleidung. Markus schnappte sich eine alte Bikerjacke und übergab Nerv die Haifischzahnkette. Maxi entschied sich für eine Sonnenbrille und ein signiertes Fußballtrikot für seine Fußballsammlung, während Raban ein Lederarmband und eine Schneekugel mitnahm. Der rothaarige Junge warf mir einen Schlüssel zu und deutete auf die Kiste rechts neben mir, die verschlossen gewesen war: „Vielleicht passt der Schüssel.“ Ich nahm ihn und steckte ihn in das verrostete Schloss. Tatsächlich musste das der passende Schlüssel sein. Ich drehte ihn herum und die Kiste sprang auf. Unter einer Schicht Staub lagen zwei Armbänder mit dem Motiv eines Mondes und dem Anhänger einer Sonne, die man ineinander stecken konnte. Aber das interessierte uns kaum, denn vor unseren Augen lag eine zusammengerollte und abgenutzte Karte, die ich nun vorsichtig vor mir ausbreitete. Meine Freunde rückten näher und wir seufzten enttäuscht. Das war nur eine ganz normale Karte, die Grünwald zeigte. Doch plötzlich zeigte Maxi auf ein Kreuz, das im Südosten eines Waldes in unserer Nähe eingeritzt worden war: „Was ist das?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Lasst es uns doch herausfinden.“, erwiderte Raban mit vor Aufregung großen Augen.

Ich hielt die Karte fest in meinen Händen und stapfte neben Maxi über den blätterbedeckten Waldboden. Wir bildeten die Spitze, da „Tippkick“ sich mit Abstand am Besten von uns in den Wäldern Grünwalds auskannte. Wir bogen vom Weg ab und gingen mitten in den Wald hinein, während wir unsere Augen abwechselnd auf das Kreuz auf der Karte und auf den Weg vor uns richteten. Meine Mutter hatte uns erzählt, dass dort früher der Lieblingsort von ihr und meinem Vater gewesen war. „Scheint so, als ob unser Ziel nicht weit entfernt von unseren selbstgebauten Schaukeln entfernt ist.“, murmelte Maxi. In der Nähe unseres Ziels angekommen, schwärmten wir aus. Nerv kletterte einen kleinen Hügel hinauf, um einen besseren Ausblick zu haben, und ging langsam ein paar Schritte rückwärts. Plötzlich verlor er den Halt, schrie auf und verschwand aus unserem Sichtfeld. Maxi eilte den Hügel hinauf, um zu sehen ob dem Jüngsten unserer Mitglieder etwas zugestoßen war. „Keine Sorge.“, antwortete der blonde Junge, „Ich bin dank den Blättern weich gelandet.“ Doch wir hörten ihm gar nicht richtig zu. Hinter dem Hügel befand sich eine Art Klippe, die Nerv heruntergestürzt war. Vorsichtig kletterten wir herab und schauten uns um. Auf dem höchsten Punkt des Hügels stand ein Baum, doch es schien so, als wäre ein Stück der Erde unter ihm weggebrochen, da die Hälfte seiner Wurzeln in der Luft schwebte und sich darunter eine Art Höhle befand. Die vorderen Wurzeln wurden von zwei Holzpfeilern gestützt, an denen Moos emporrankte, und weiter hinten in der Höhle stand eine kleine Kiste. „Das muss es sein“, flüsterte Markus. Vorsichtig schoben wir Unmengen von Blättern zur Seite, die die Hälfte des Eingangs versperrten, und krabbelten in die Höhle. Das Schloss an der alten Kiste, die ich jetzt vorsichtig auf meinen Schoß stellte, war durch den Rost aufgesprungen, sodass ich es leicht entfernen konnte. Der Inhalt der Truhe waren einige glänzende Steine, getrocknete Blumen ein altes Foto meiner Eltern und eine Polaroid Kamera, mit der es vermutlich geschossen worden war. „Bitte einmal lächeln“, rief Raban und hielt die Kamera, die tatsächlich noch funktionierte, auf uns. Nach ein paar Minuten betrachteten wir lachend das Ergebnis und Markus warf ein: „Wir müssen den anderen auch diesen Ort zeigen.“ Wir alle stimmten ihm zu und Maxi erklärte sich dazu bereit, Leon, Marlon und Vanessa zu holen. Wir starrten aus der Höhle und konnten direkt in den Finsterwald sehen. Juli war vor einiger Zeit immer darin herumgestreunt, da sein und Joschkas Vater in den Graffiti-Burgen hinter dem Finsterwald lebte und Juli sich nie sicher gewesen war, auf welche Seite er gehörte. Denn bei den Graffiti-Burgen lebte das Böse und damit niemand geringeres als der Dicke Michi höchstpersönlich. Doch zum Glück schlief das Böse tagsüber, also waren wir keinerlei Gefahren ausgesetzt.

Der Regen prasselte vor uns auf den Boden. Zum Glück hielten die Wurzeln und die verklebten Blätter über uns den meisten Regen ab, sodass es in unserer Höhle trocken blieb. Maxi war immer noch nicht zurück und ich wollte mir gerade anfangen Sorgen zu machen, als ich Schritte hörte. „Tippkick“ sprang die Klippe hinab: „Da wären wir.“ Er zeigte auf unseren Unterschlupf und sah zu seinen Begleitern, blickte dann aber zu uns und grinste: „Schaut mal, wen ich mitgebracht hab.“ Zuerst sprang Leon die Klippe herunter, dann folgten ihm Marlon und Vanessa und schließlich kletterte auch ein Mann mit langen dunkelbraunen Haaren, einem schwarzen Hut und einem stoppeligen Bart zu uns herab und lächelte uns freundlich an. „Willi!“, riefen Raban und Markus positiv überrascht aus. Ich verstand. Das musste also Willi sein, der mehr oder weniger ehemalige Trainer der wilden Kerle. Der Mann folgte Maxi, Leon, Marlon und Vanessa und übergab uns einige Decken, die er unter seinen Armen getragen hatte. Der Platz in der Höhle reichte gerade für uns alle aus, sodass es schnell wärmer wurde. „Ihr müsst Yara und Nerv sein.“, lächelte er, „Willkommen im Team.“ „Du kennst uns?“, fragte der kleine Junge neben mir überrascht. Willi lachte nur: „Aber natürlich tu‘ ich das. Man hört öfter von den wilden Kerlen, als ihr denkt. Da ist mit natürlich nicht entgangen, dass sie zwei großartige Spieler mehr haben.“ Ich lächelte geschmeichelt. „Bitte Willi, wir wollen eine Geschichte hören.“, warf Raban nun ein. Der Trainer seufzte: „Verfluchte Hacke, eine Geschichte also, ja?“ Wir alle nickten gespannt und Willi begann zu überlegen. „Nun, die Geschichte fängt genau hier an, ob ihr es glaubt oder nicht.“, fing er mit seiner rauen Stimme an zu erzählen, die perfekt für spannende Geschichten war, „Und in dieser Höhle saßen acht friedliche, aber dennoch unwahrscheinlich wilde Kerle. Doch plötzlich…“ Ich kuschelte mich wie die anderen in eine der Decken und hörte Willi gespannt zu, während ein Lächeln auf meinen Lippen lag. Das war einer dieser Momente, von dem ich mir wünschte dass er nie enden würde.

~Meine Beine, meine Seele~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt