Kapitel 11

82 2 1
                                    

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich meine Augen aufschlug und mir meine Bettdecke über den Kopf zog. Ich seufzte und wollte gerade in das Land meiner Träume zurückkehren, aber eine energische Stimme drang an mein Ohr: „Aufwachen, du Schlafmütze. Es ist schon fast Mittag.“ Meine Mutter hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und schüttelte lächelnd den Kopf. „Aber ich habe doch Ferien, Mama.“, entgegnete ich und gähnte. Doch die nahm nun meine Bettdecke und zog sanft daran: „Hast du vergessen, welcher Tag heute ist? Du musst deine Taschen noch packen.“ Schlagartig fiel all die Müdigkeit von mir ab und ich sprang auf. Natürlich wusste ich, welcher Tag heute war. Und deswegen rannte ich so schnell wie möglich zu meinem Kleiderschrank und anschließend ins Badezimmer, um mein Gepäck zusammenzusuchen. Erst danach frühstückte ich und machte mich fertig. Mein Vater trug meine Tasche und meinen Schlafsack bereits zur Haustür und als es klingelte band ich meine Haare zu einem Zopf zusammen, während ich schon die Treppe hinunterrannte. Ich verabschiedete mich von meinen Eltern und Geschwistern und nahm anschließend mein Gepäck. Ich folgte Frau Bieling zu ihrem Auto. Die nahm mir meine Tasche ab und verstaute sie im Kofferraum. Ich setzte mich auf die Rückbank neben Maxi, der mich bereits lächelnd begrüßte. Auch Vanessa, Leon und Marlon schlossen sich ihm an.

Ich stieg aus dem Auto und sog die frische Luft ein. Die Fahrt war wie im Handumdrehen vorbeigegangen, da wir so sehr in unser Gespräch vertieft gewesen waren. Neben dem Auto, in dem wir mitgefahren waren, hielt nun ein Weiteres. Aus diesem stiegen nun Raban, Joschka, Markus und Nerv. Ich schaute den Jungen mit der Coca-Cola-Glas-Brille dankbar an. Er hatte seine Mutter dazu überredet, auf dem Bauernhof seiner Tante, den ich vor einiger Zeit mit ihm und Joschka besucht hatte, mit den wilden Kerlen übernachten zu dürfen. Und die hatte nach einiger Zeit auch eingewilligt. Nun kam uns Rabans Tante bereits grinsend entgegen: „Hallo, ihr müsst die wilden Kerle sein.“ Das sagte sie mit einer Stimme, die so entzückt klang, als würde sie nicht vor uns, den waschechten wilden Kerlen, sondern eher den wilden Kerlchen, irgendeiner Kindergartengruppe, stehen. Doch das ließ Nerv nicht auf sich sitzen. „Ja, die sind wir!“, entgegnete er streng und machte sich so groß, wie nur möglich, „Und wir sind die wildeste Fußballmannschaft der Welt. Wir haben schon unzählige Mannschaften auf den Mond geschossen.“ „Genau, und danach direkt in die Hölle.“, ergänzte Leon und breitete die Arme aus, sodass wir uns in einen Kreis stellten. Wir schrien unseren Schlachtruf so laut wir nur konnten und ich war mir sicher, dass ihn selbst Herr Maximilian in Grünwald hören konnte,  während er sich dabei nur so ärgerte. Als wir uns wieder Rabans Tante zuwandten, war ihr Grinsen versteinert und eher schockiert als fröhlich. Sie bedeutete uns nur tonlos ihr zu folgen und verschwand hinter dem Haus. Schnell gingen wir hinter ihr her und standen schließlich vor einer Leiter, die zu einer hölzernen, weiter oben gelegenen Tür führte. „Die Leiter führt zum Heuboden. Dort werdet ihr heute Nacht schlafen.“, erklärte uns die Frau. Wir jubelten und rannten zu den Autos, um unser Gepäck zu holen. Ich hängte mir meine Tasche um den Arm und warf meinen Schlafsack zu Leon, der am oberen Ende der Leiter wartete, bevor ich selbst hinaufkletterte. Auf dem Heuboden angekommen drehte ich mich staunend um mich selbst. Um mich herum lagen Unmengen von Heu und durch ein paar kleine Löcher im Dach fielen warme Herbstsonnenstrahlen. Wir begannen, unser Lager aufzubauen. Beim Ausbreiten seines Schlafsacks wirbelte Marlon Heu auf und traf seinen Bruder damit direkt ins Gesicht. Leon ließ das nicht auf sich sitzen und griff tief in das Heu. Doch als er seinen Bruder abwarf, traf er auch Joschka. Dieser stemmte empört die Hände in die Seiten und beteiligte sich jetzt auch an der Heu-Schlacht. Grinsend schaute ich den Jungen zu, als plötzlich eine Menge der Halme auf mich herabsegelte. Maxi, der Übeltäter, stand lachend neben mir, also schubste ich ihn mitten in das Meer aus Heu. Überrascht prustend tauchte er wieder auf, sodass ich lachen musste: „Damit hast du nicht gerechnet, was?“

Einige Zeit später saßen wir erschöpft und mit Heu überseht auf unseren Schlafsäcken. Plötzlich klang eine Stimme an unsere Ohren: „Habt ihr Hunger? Hier unten wartet ein Lagerfeuer auf euch.“ Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Nur ein paar Sekunden später saßen wir um das lodernde Feuer und grillten Würstchen und Stockbrot. Wir saßen schweigend mit vollen Bäuchen da, als Markus aufsprang: „Wie wäre es mit einer Nachtwanderung?“ „Ja, das soll schließlich das wildeste Halloween aller Zeiten werden.“, entgegnete Leon. Heute war ja Halloween, das hatte ich beinahe vergessen. Normalerweise waren wir immer in Kostümen durch Grünwald gezogen, aber das machten schließlich nur kleine Kinder. Raban fragte seine Tante nach ein paar Taschenlampen, die sie uns sofort zur Verfügung stellte. Die Sonne ging bereits unter und leuchtete die Bergspitzen an, als wir aufbrachen. Wir gingen durch einen kleinen, dichten Nadelwald und leuchteten die Bäume mit unseren Taschenlampen an. Plötzlich tauchte ein Schatten an einem der Baumstämme auf, was mich zusammenzucken ließ. „Hast du etwa Angst?“, lachte Nerv, „Das war doch nur Vanessas Schatten.“ Ich rollte mit den Augen, doch Maxi lief nun neben mir und lächelte mich beruhigend an, was mich Nervs Kommentar augenblicklich vergessen ließ. Nach einer Weile warf Markus ein: „Wo ist eigentlich Marlon?“ Wir drehten uns um, aber von dem Jungen fehlte jede Spur. „Der will uns nur erschrecken.“, entgegnete Leon, doch Vanessa wandte zögerlich ein: „Was ist, wenn ihm wirklich etwas passiert ist, Leon? Wir sollten umkehren und ihn suchen. Er kennt sich hier doch gar nicht aus.“ Unser Anführer musste Schlucken, als das Mädchen ihre Sorgen ausgesprochen hatte. „Ja, lasst uns umkehren.“, beschloss er nun und wirkte plötzlich gar nicht mehr selbstbewusst und optimistisch. Wir gingen den Weg immer weiter entlang, doch von Marlon fehlte immernoch jede Spur. Schließlich waren wir fast am Ende des Waldes angekommen. Laut schreiend sprang ein rothaariger Blitz zwischen den Bäumen her und landete direkt vor Leon: „Das ist die Rache für damals, als du uns allen an Halloween einen Streich spielen wolltest.“ „Du bist echt die Pest, weißt du das?“, entgegnete Leon nur und „Ja, deswegen sind wir ja Brüder.“, gab Marlon zurück. „Ich glaube allerdings, du hast Nerv mehr erschreckt als mich.“, lachte unser Anführer nun. Ich drehte mich um und bemerkte, dass der Junge sich hinter mir versteckt hatte. „Hast du etwa Angst?“, grinste ich, doch Nerv kickte einen Stein vor sich her und erwiderte nur genervt: „Haha, sehr lustig.“

Wir lagen in unseren Schlafsäcken, als der Mond bereits hell am Himmel leuchtete. Raban leuchtete mit seiner Taschenlampe an die Decke und Joschka, der neben ihm lag, fing an, Handzeichen zu machen und Figuren darzustellen. Die beiden Jungen begannen, sich Geschichten auszudenken, denen wir gebannt bis tief in die Nacht zuhörten. Als ich mich zu Maxi drehte, der bereits zu schlafen schien, musste ich lächeln. Es beruhigte mich, das gleichmäßige Heben und Senken seiner Brust im Taschenlampenlicht zu sehen und seinen leisen, tiefen Atem zu hören. Nur einige Minuten später packte auch mich selbst der Schlaf.

~Meine Beine, meine Seele~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt