Kapitel 24

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Meine Augen strahlten und mein ganzer Körper kribbelte vor Freude. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass wir die Wölfe tatsächlich besiegt hatten. „Du hast Recht Erik, ich bin genauso wie du.“, wendete sich Leon nun an den Anführer unserer Gegner, die immer noch wie versteinert auf ihren Plätzen standen uns emotionslos zusahen. Enthusiastisch lud Raban sie zu einer Feier unseres Sieges ein, doch die Wölfe rührten sich nicht. Marlon sah zu dem fremden Mädchen: „Und du? Was ist mit dir? Leon und ich, wir würden uns freuen, wenn du mit uns-.“ Weiter kam er nicht, denn sein Gegenüber entgegnete: „Leon und wer?“ Das Glitzern verschwand aus Marlons Augen und er sah das Mädchen, das sich nun auf ihr Motorrad zubewegte, verletzt an: „Hey, wo gehst du hin? Horizon, jetzt bleib doch mal stehen.“ Da drehte sich die Fremde um: „Horizon?“ „So nenne ich dich. So wie der Sonnenaufgang und die Sehnsucht. Die Sehnsucht danach, was dahinter liegt. Ich bitte dich, wir haben gewonnen. Wir sind die Besten.“ Horizon stellte sich so dicht vor Marlon, dass er ihren Atem spüren konnte: „Oh, ich verstehe. Dann bist du bestimmt auch so gut, dass du mich schlagen kannst.“ Sie nahm drei Kugeln und schmiss sie in die Luft. Die kleinen Bälle glänzten silbrig in der Sonne. Horizon sprang und traf jeden davon. Die Kugeln flogen auf drei Zielscheiben zu, die krachend nachgaben. Die Kinnlade der Nummer 10 klappte herunter. Die Fremde forderte Marlon auf sein Glück zu versuchen, doch sie bekam keine Antwort. Sie lächelte hinterlistig: „Oder soll ich lieber ihn fragen, ob er für dich spielen will?“ Marlons Blick fiel auf seinen Bruder und die Eifersucht packte ihn. Sie schnürte ihm die Kehle zu. Horizon setzte den Weg zu ihrem Motorrad fort: „Tja, wie es aussieht habt ihr doch nicht alles gewonnen. Ihr könnt euch entscheiden, ob ihr euch versteckt wie die Wölfe oder ob ihr euch traut. Ich warte auf euch. Hinter dem Nebel.“ Damit setzte sie sich auf ihr Gefährt und fuhr davon. Doch ihre Worte hinterließen nicht nur bei Marlon, sondern auch bei Leon eine Spur. Sie hatten seinen Kampfgeist geweckt. Die Brüder schauten dem Mädchen nach. Erik versuchte sie davon abzuhalten hinter den Nebel zu fahren, doch er kassierte nur die kalten Worte Leons.

Wir saßen in einem Kreis um ein loderndes Lagerfeuer in der Mitte der Festung und schwiegen. Kojote Karl Heinz bahnte sich einen Weg zwischen uns hindurch. Sie versuchte Nerv Angst zu machen, was durchaus funktionierte, da der Junge nun kleinlaut neben Leon saß. „Schieß endlich los“, befahl dieser nun. Der strenge Blick des Kojoten landete auf ihm: „Okay, wie du willst. Vor einem Jahr, vor 12 Monden und zweimal 12 Siegen – wir siegten zum dritten Mal im Freestyle-Contest – da kamen die Silberlichten aus dem Nebel heraus.“, sie drehte sich zu Marlon, als wollte sie ihn erschrecken, „Ja, Marlon, Horizon ist eine von ihnen. Doch in Wirklichkeit hat sie gar keinen Namen. Sie hat keinen Namen, weil das Grauen auch keinen hat. Doch Erik und Jaromir sind ihr trotzdem gefolgt. Erik, unser Anführer, und Jaromir, sein älterer Bruder. Sie hatten sich beide in das Mädchen verliebt. Aber nur einer von ihnen ist wiedergekommen. Er lag eines Morgens vor Ragnaröks Tor und er konnte sich an nichts mehr erinnern. Nur das ist noch da.“ Wir hielten die Luft an, als die Erzählerin den Anführer der Wölfe zu sich holte. Sie riss sein Hemd auf, sodass sein nackter Oberkörper entblößt wurde. Auf ihm stand mit schwarzer Tätowiertinte „Verräter“ und „Verlierer“ in der Form eines Kreuzes. Ein eiskalter Schauer lief uns über den Rücken und Nerv stellte die Frage, die festgebrannt in unseren Köpfen stand: „Was ist mit Jaromir?“ Schweigen erfüllte das Lager und plötzlich verließ Erik den Sitzkreis hektisch. Kojote Karl Heinz sprach mit bebender Stimme: „Das wissen wir nicht. Wir wissen nur eins: Hinter dem Nebel ist alles vorbei.“ Damit ließ auch sie uns sitzen. Vanessa setzte sich schweigend neben Leon und holte schließlich tief Luft: „Können wir reden?“ „Worüber?“, entgegnete ihr Freund. Da fuhr Marlon auf seinem Motocross vor: „Wir fahren.“ Als er keine Antwort erhielt provozierte er seinen Bruder. Er warf ihm an den Kopf zu kneifen und sich zu verstecken. Dann fuhr er wortlos aus der Festung. Das konnte Leon selbstverständlich nicht auf sich sitzen lassen. Er sprang auf und holte ebenfalls sein Gefährt. Vanessa trat mit schimmernden Augen vor ihn: „Ich will, dass du bleibst. Hey Leon, die Silberlichten gehören nicht in unsere Welt.“ Sie versuchte ihn mit aller Kraft zu überzeugen, doch unser Anführer gab nur eiskalte Bemerkungen zurück. Ein letztes Mal setzte sie an: „Leon, ich bitte dich. Ich lie-.“ „Hast du deshalb extra verloren?“, fuhr Leon sie an und Maxi ermahnte ihn wegen seiner Worte. Doch das interessierte den Slalomdribbler nicht. Er gab Gas und bahnte sich seinen Weg. Wir sprangen zur Seite und machten ihm Platz. Vanessa lief ihm ein paar Schritte hinterher und drohte wütend: „Aber wenn du zurückkommt ist nichts mehr so, wie es war.“ Doch das hörte ihr Geliebter nicht. Genau wie Marlon verließ er das Lager und fuhr in den Wald hinein.

Vorsichtig kletterte ich durch ein Loch in der Bretterwand der Festung. Morgens waren die Wölfe gefahren und hatten uns alleine zurückgelassen. Nur Klette war noch hier geblieben. Wir hatten entschieden nach Antworten auf die Feindschaft der Silberlichten oder das Verschwinden von Jaromir zu suchen und waren nun auf diesen versteckten Platz getroffen. „Wer hat denn hier gehaust?“, fragte Joschka angeekelt, als sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und wir den Dreck und die riesigen Spinnennetze über uns erkennen konnten. „Bestimmt dieser Kojote.“, vermutete Raban, doch Klette gab ihm die Antwort: „Nein, das war Jaromirs Haus.“ Sie legte einen Schalter um und flackernd erleuchtete eine Lampe unsere Umgebung. Staunend sahen wir uns um. An der Wand hing ein Bild von Erik und einem Jungen in seinem Alter. Das musste Jaromir sein. Daneben standen unzählige Pokale, die von Spinnenweben umwickelt waren und gold glänzten.  „Jetzt wisst ihr, warum ihr gewonnen habt.“, fuhr Klette fort, „Ohne Jaromir waren wir alle nur halb so viel wert.“ „Und trotzdem hat er verloren.“, seufzte Raban, doch Markus entgegnete: „Da bin ich mir gar nicht so sicher. Ich glaube, Jaromir hat gegen Erik gekämpft. Habt ihr euch schonmal gefragt, wie sich Marlon so fühlt?“ Die anderen sahen den Unbezwingbaren verwirrt an, doch nun legte sich ein Schalter in meinem Kopf um und alles wurde plötzlich sonnenklar: „Stimmt, er ist der ältere. Genauso wie Jaromir. Und trotzdem ist sein jüngerer Bruder der Boss. Er steht im Rampenlicht, erntet den Ruhm und Jaromir kriegt nur die Brotkrumen ab.“ „Genauso wie Marlon.“, fügte Klette nun hinzu, „Doch dann kommt Horizon. Jaromir verliebt sich in sie, genauso wie Marlon. Doch Erik gönnt es ihm nicht, genauso wie Leon.“ Markus stimmte dem Mädchen zu: „Klette hat Recht. Er will nie verlieren. Er will nie der Zweite sein.“ „Leon und Marlon sind Feinde.“, flüsterte ich und sprach das aus, was wir alle dachten.

Leise lag ich in meiner Hängematte. Die Nacht war hereingebrochen und hatte unsere Energie geraubt. Ich wollte schlafen, doch meine Gedanken kreisten. Ich konnte nicht glauben, dass Leon und Marlon tatsächlich Konkurrenten waren. Unscheinbare Schritte gingen langsam über den Holzboden und hörten abrupt wieder auf. Ich hörte das Flüstern von zwei Personen und setzte mich neugierig auf, um besser hören zu können. „Verflixt.“, schniefte eine Stimme, „Ich glaube ihm kein Wort.“ Sie gehörte Vanessa. Obwohl ich das Mädchen nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie weinte. Ich seufzte. Sie hatte das nicht verdient. „Verstehst du das?“, fügte Vanessa hinzu und wurde lauter, „Wärst du weggegangen?“ „Nein.“, flüsterte die andere Stimme, „Ich hätte dich niemals verlassen.“ Mein Herz blieb stehen. Das war Maxi. Vanessa und Maxi? Ich japste vor Schreck und hielt dann die Luft an. „Oh mein Gott. Das wusste ich nicht.“, Vanessa klang plötzlich so mitfühlend und fürsorglich. Maxi entgegnete mit zitternder Stimme: „Das solltest du auch niemals erfahren.“ „Was machen wir jetzt?“, erklang die gedämpfte Stimme des Mädchens. Nach einer kurzen Stille antwortete „Tippkick“: „Ich fahre morgen heim. Ich will nicht dabei sein, wenn alles untergeht.“ Langsam wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich weinte. Liebte Maxi etwa Vanessa? Ein Schluchzen folgte diesem Gedanken und ich legte mich wieder zurück in meine Hängematte. Mit aller Kraft hielt ich mir den Mund zu, um die anderen nicht auf mich aufmerksam zu machen. Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut und ich zitterte vor Kälte und Schmerz. Obwohl ich Maxi nie meine Gefühle gestanden hatte, hatte mein Herz mir gesagt, dass er auch so empfand wie ich. Was war mit den Zeichen, die er mir gegeben hatte? Hatte ich das alles falsch gedeutet? War das alles gespielt gewesen? Mir wurde schlecht, als an Vanessa und Maxi dachte. Die ganze Zeit über waren die beiden am meiner Seite gewesen und ich hatte nichts gemerkt. Was wurde jetzt aus mir? Ich konnte nicht länger Maxis beste Freundin sein. Nicht so. War ich etwa nicht gut genug?

~Meine Beine, meine Seele~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt