3 ~ Die ersten Tage

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Cassandra hasste es, wenn ihre Vermutungen zutrafen. Eigentlich besaß sie als Hario, als Hellseherin, keine nennenswerten Fähigkeiten und doch hatte sie mit ihrer Prognose Recht behalten: Sie konnte nicht schlafen. Die Uhr des Marktplatzes, der von Warrens Haus nicht weit entfernt war, hatte bereits Mitternacht geschlagen.

Ein sarkastisches Lachen löste sich aus ihrer Kehle, während sie sich zum hundertsten Mal in dieser Nacht umdrehte. Vor etwa fünf Jahren war sie um jede Nacht froh gewesen, in der sie nicht geschlafen hatte. Denn das hatte bedeutet, dass es eine Nacht gewesen war, in der sie nicht in der Privatsphäre anderer herumgeschnüffelt hatte.

Cassandra wusste, dass ihr Vater sich teilweise die Schuld daran gegeben hatte. „Dieses Umherwandern hast du von mir geerbt."

Wie oft hatte sie diesen Satz von ihm gehört und hatte sich gewünscht ihm die Gewissheit nehmen zu können, wenn sich dabei Gramesfalten um seinen Mund eingegraben hatten.

Aber es war nicht zu leugnen, dass Cassandra wie ihr Vater früher ein kleines Vernetzungsproblem hatte. Mochte sie wie er keine begabte Telepatin sein, hatte sich dieser Defekt schnell anderweitig bemerkbar gemacht: Cassandra hatte begonnen durch die Träume der Menschen zu wandern.

Als Kind hatte sie das noch nicht verstanden, erst als sie versehentlich in den Traum ihrer Eltern geplatzt war, hatten sie das Problem erkannt. Cassandras Magie war schon immer instabil gewesen, hatte sich teilweise sogar ihrer Kontrolle entzogen und verheerenden Schaden angerichtet, wenn ihre Mutter es nicht rechtzeitig eingedämmt hatte.

Marie und Raphaels ältere Schwester Freya hatte sie schon scherzhaft eine Traumwandlerin genannt und sie lachend über die Träume der Menschen ausgefragt. Cassandra hatte immer schon ein sehr inniges Verhältnis zu ihrer Schwester gehabt, doch in diesen Momenten war sie kurz davor gewesen sie zu hassen. Und dann, kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag, hatte das ziellose Umherwandern endlich aufgehört.

In jener Nacht war Cassandra in Form einer Katze auf einen Kater getroffen und hatte sofort gespürt, dass etwas vollkommen anders war. Tatsächlich war sie nicht länger in andere Träume eingetaucht, sondern war bei diesem einen jungen Mann geblieben. Erst waren beide zu verstört gewesen, doch nach einiger Zeit hatten sie angefangen sich anzufreunden.

Zusammen mit diesen bizarren Traumgesprächen hatten sich Cassandras Probleme mit ihrer Magie deutlich gebessert. Ihre Eltern hatten schon angenommen, dass es mit dem Ende der Pubertät zutun hatte und nun endlich ausgestanden war. Aber Marie, der einzigen der sie von dem schwarzen Kater erzählt hatte, war der festen Überzeugung gewesen, dass dieser Mensch die Veränderung bewirkt hatte.

Cassandra war es damals egal gewesen. Aber jetzt, wo die Träume geendet hatten, war ihr das alles andre als gleichgültig. Ein leises Seufzen entwich ihr und sie drehte sich nochmals um. Sie konnte ganz genau spüren, dass er in dieser Stadt war. Sie musste ihn finden, ihm helfen und ihm sagen, dass...

„Sei nicht albern", wisperte sie und lächelte traurig. Sie wusste, wie Menschen sich ihr gegenüber verhielten. Sie war in dieser Welt, in dieser Gegend bekannt wie ein bunter Hund: Cassandra Sileri, die unkontrollierbare Halbemendi. Aber jetzt konnte sie ihre überschüssige Magie für etwas viel Wichtigeres einsetzten, statt damit immer nur als Energiequelle für die magiebegabten Kinder in Maries Schule zu dienen.

Sobald der Morgen graute, würde sie sich auf den Weg durch die Stadt machen. Sie wusste noch nicht genau wie sie es anstellen wollte, aber ihr würde schon etwas einfallen. Neben dem Vergleich mit dem Mienenfeld hatten ihre Lehrer noch etwas ständig zu ihr gesagt: „Du hast so großes Potenzial."

Dass sie es mit einem verzweifelten Unterton gesagt hatten, weil Cassandra sich schlicht geweigert hatte ihren Aufforderungen nachzukommen, zauberte nun ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht.

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