35 ~ Wichtige Worte

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„Sie fühlt sich an wie deine Mutter früher."

Scharf einatmend schreckte Marie von ihrem Buch hoch und sah in die traurigen Augen ihrer Großmutter. Tiefe Falten, die vor einer Woche noch nicht da gewesen waren, hatten sich um Ilkas Mund eingegraben. Langsam kam sie neben sie und setzte sich auf die Lehne von Maries Sessel.

„Wie meinst du das Oma?", fragte sie und klappte das Buch zu. Sie konnte die Male nicht zählen, die sie ihrer Schwester die Nymphengeschichten vorgelesen hatte. Die Hoffnung, dass sie durch die vertrauten Worte zurück in die wache Welt geführt werden könnte, ließ sie es immer und immer wieder versuchen.

Behutsam strich Ilka ihr mit der Hand übers Haar. „Ich sagte, Cassandra fühlt sich an wie deine Mutter damals. Irgendwie... kalt im Geist."

Nur ein Narr hätte die Grimasse für ein Lächeln gehalten, dass das Gesicht der betagten Emendi verzog. „Weißt du, damals ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Warum hatte mein kleines Mädchen seine Augen nicht öffnen wollen? Warum hatte sie nicht an der Welt teilhaben wollen, in die sie hineingeboren worden war?"

Kalte Erkenntnis erfasste Maries Herz und sie schluckte hart gegen den Kloß an, der sich darauf in ihrer Kehle bildete. „Bitte sag nicht, dass Cassie sich selbst in eine Träumerin verwandelt hat."

Doch ihre Großmutter musste gar nichts darauf antworten, denn in ihrem Herzen hatte Marie es bereits geahnt. Zu grau, zu gefühllos war die Landschaft, die Cassandras Bewusstsein in ihrem Kopf widerspiegelte.

Über sieben Tage waren vergangen, seit sie ihren rußverschmierten Körper in der Emendiwelt gefunden hatten. Seither hatten sie nichts unversucht gelassen, alles ausprobiert, was sie hätte wieder zu Bewusstsein führen können. Schließlich hatten sie sie, wenn auch gegen den Protest der Mederi Leni, nach Hause nach Drijra gebracht. Aber auch hier dasselbe: nichts.

'Sie gibt sich die Schuld an dem, was passiert ist', dachte Marie und schloss für einige Herzschläge die Augen. Sicherlich, ihre kleine Schwester hatte das Leben dieser Emendi auf dem Gewissen, aber insgeheim war ihr dafür jeder dankbar. Es mochte ein Schock gewesen sein, aber Marie war sich sicher, dass Cassandra einen äußerst triftigen Grund für ihre Tat gehabt hatte.

Seit diesem grauenhaften Morgen warteten sie alle darauf, dass Cassandra aufwachte. Ihre Mutter hatte an Gewicht verloren, ihr Vater schlief kaum noch und selbst ihr Onkel und ihre Großmutter wanderten ruhelos durch das Haus. Keiner wagte es nach Hause zu gehen. Raphael kam jeden Tag vorbei und auch ihm sah Marie deutlich an, wie sehr ihn das alles belastete.

Marie fühlte das magische Kribbeln auf ihrer Haut und wusste bereits bevor Ilka etwas sagte, dass ihre Mutter zum Essen gerufen hatte. Obwohl niemand von ihnen sonderlich viel Appetit hatte, bestand Ari nach wie vor auf die gemeinsamen Essen.

'Die Routine hilft, dass wir nicht an der Verzweiflung zerbrechen.'

Liebevoll tätschelte ihre Großmutter ihre Hand und erhob sich. „Geh schon vor, ich komme gleich nach", sagte Marie und lächelte der Emendi aufmunternd zu. Erst als diese den Raum verlassen hatte, ging Marie zum Bett ihrer Schwester hinüber und sah traurig zu ihr hinunter. Blass, fast durchscheinend lag sie da, das blonde Haar seltsam stumpf und die Brust lediglich von leichten Atemzügen bewegt.

Pein umklammerte Maries Herz, ebenso wie Hilflosigkeit und Sehnsucht. Sie und Cassandra waren sich immer so nah gestanden, hatten sich alles erzählt und gewusst wie es in der anderen aussah. Nun fühlte Marie sich seltsam betrogen, ausgeschlossen von einer ihrer besten Freundinnen.

Obwohl sie sich geschworen hatte nicht zu weinen verschleierten Tränen ihre Sicht, als sie sich zu der jüngeren hinunterbeugte. Dicht neben deren Ohr flüsterte sie mit bebender Stimme: „Wach auf Schwesterherz, schließ uns nicht aus. Hier warten Menschen auf dich, die dich lieben und sehr vermissen."

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