13 ~ Gutgemeinte Ratschläge

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Kühler Nebel lauerte am Stadtrand, verschlang alles und jeden, der sich hinter den Häuserreihen hervortraute mit seinen grauen Fängen. Unaufhaltsam kroch die Feuchtigkeit in die Kleider und ließ die Menschen frösteln.

'Ich hasse dieses Wetter', dachte Joakim und schob die Hände noch tiefer in die Taschen seines Mantels. Es war bereits nach neun Uhr und trotzdem konnte man nicht eindeutig sagen, ob hinter den dicken Wolkenschichten eine Sonne war oder nicht. Das diffuse Licht kam von überall her und doch von nirgends. Lediglich das Knirschen des Kieses unter seinen Füßen war zu hören.

Jedes Mal, wenn die Herbstnebel die Landschaft fest im Griff hatten, musste Joakim an seinen Bruder Finian denken. An dessen Beerdigung war ebenfalls Nebel über den Boden gekrochen und hatte den Friedhof in eine unheimliche Kulisse für dieses traurige Ereignis verwandelt. Erinnerungen drückten auf Joakims Geist, während er sich immer weiter von Effero entfernte.

„Hör auf zu heulen Junge", herrschte Jendrik ihn an, maß ihn mit strengem Blick. Trotzig zog Joakim die Nase hoch, ganz so wie alle 13-jährigen Jungs. Doch jeder, der ihn an diesem Tag angesehen hatte, in seine Augen geblickt hatte wusste, dass er kein Kind mehr war. Die Unschuld war von ihm gewichen und hatte den bei einem Kind verstörenden Ausdruck von Härte hinterlassen. Schweigend stand er bei seinen Eltern und seinem Großvater, während sie auf die Kutsche warteten.

An die Fahrt zum Friedhof konnte er sich nur verschwommen erinnern. Er wusste nur noch, wie er zusammen mit etlichen, in tiefes Schwarz gekleideten Menschen am Grab seines drei Jahre älteren Bruders gestanden hatte und der feuchte Nebel in seine Kleidung eingedrungen war. Er konnte noch immer das Schluchzen seiner Mutter hören, das ihn manchmal noch in seinen Albträumen heimsuchte.

Es war der letzte Tag gewesen, den Joakim ganz mit seinen Eltern verbracht hatte. Nachdem Finian beigesetzt worden war, zogen Rika und Lennart Obtrec nach Kalesk. Ihn ließen sie bei seinem Großvater, dessen Namen er fortan trug. Deutlicher hätten sie ihm nicht zeigen können, dass sie nichts mehr mit ihm zutun haben wollten.

„Genug", flüsterte Joakim rau und zwang sich, seine Gedanken in die Gegenwart zurück zu holen. Alle Welt nahm an, dass Finian Obtrec bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. Jeder, der von ihm wusste, nahm immer noch an, dass der 16-jährige gestürzt war und sich dabei den Schädel gebrochen hatte.

Doch vier Menschen, vor allem Joakim selbst, kannten die Wahrheit.

'Und nun auch dieser Mann, der mich mit meiner Vergangenheit unter Druck setzt.' Der Gedanke fegte kalt durch seinen Kopf, ließ seinen Magen rebellieren.

Unvermittelt riss ihn der Ruf einer bekannten Stimme zusammenzucken. „Joakim, wo willst du denn hin?"

Erschrocken drehte er sich um und sah Leif, der als diffuse Gestalt auf ihn zukam und ihn besorgt musterte. „Ich wollte zu dir", erwiderte er und sah sich zum ersten Mal bewusst um.

„Na, dann bist du aber schön an uns vorbeigewandert. Die Baustelle ist gute fünfzig Schritte in die andre Richtung."

Joakim folgte dem Handzeichen seines Freundes und erst jetzt drangen die typischen Geräusche an sein Ohr, die er bereits seit Jahren von unzähligen anderen Baustellen gewöhnt war. Wie ein nasser Hund schüttelte er den Kopf und lächelte Leif schief an. „Tut mir leid mein Freund, heute ist wohl nicht mein Tag."

Der braunhaarige Mann nickte verständnisvoll. „Spätestens morgen hätten wir angefangen nach dir zu suchen."

Sie sahen sich noch einige Augenblicke an, ehe sie sich auf den Weg zu den anderen Männern machten, die hinter einigen Nebelschwaden verborgen lagen. Joakim spielte mit dem Gedanken, seinem langjährigen Freund von seinem Bruder zu erzählen, doch er schwieg. Er wollte nicht die Freundschaft aufs Spiel setzen, indem er dieses grausame Detail seiner Vergangenheit preisgab.

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