FÜNFUNDZWANZIG

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SARINA

Konnte man jemanden hassen und sich gleichzeitig um diese Person sorgen?

Ich wollte diese Antwort nicht hören. Das brauchte ich auch gar nicht, denn ich wusste sie schon. Ja, konnte man. Bei mir war genau dieser Fall eingetreten. Um genau zu sein, seitdem Blut auf mich gespritzt war.

Für einen Augenblick dachte ich, das Blut gehörte Iván. Tat es nicht, sondern dem Pfarrer, der mittlerweile in einem Leichensack aus der Kathedrale getragen wurde. Seine Stirn war mit einem Loch beschenkt worden.

Den Anblick würde ich nicht mehr so schnell vergessen.

Die zwei Männer, die Alvaro vor Tagen erschossen hatte, waren nichts dagegen. Und der Mann, der direkt vor meiner Nase von meinem nun Ehemann erschossen wurde, konnte man ebenfalls nicht als so grauenhaft einstufen. Er war kein Pfarrer, kein unschuldiger Mann.

Nachdem ich vorhin dann glücklich darüber war, dass Iván nicht erschossen wurde, bemerkte ich seine Schusswunde. Er war an der Taille angeschossen worden.

Da er laufen konnte, als er in Handschellen vom FBI abgeführt wurde, kam er hoffentlich nur mit einem Streifschuss davon. Hoffentlich?

Ich machte mir wirklich zu viele Sorgen um ihn. Iván verdiente das nicht. Er war selbst daran schuld, wenn er kriminelle Geschäfte tätigte. Ja, er wurde in dieses Leben hineingeboren, trotzdem hätte er sich dagegen entscheiden können.

Nun saß ich seit einer guten Stunde auf einem unbequemen Stuhl in einem Verhörzimmer. Es gab nichts, womit ich mich beschäftigen konnte. Entweder starrte ich auf das Spiegelglas, auf die kahlen, schalldichten Wände oder auf die Wanduhr. Sie ging mir dauerhaft auf die Nerven. Ticktack, ticktack. In Dauerschleife.

Nervös wippte ich mit den Füßen. Es schwirrten Fragen in meinem Kopf herum, die endlich beantwortet werden sollten.

Warum wurde die Kathedrale gestürmt?

Warum sollte Iván erschossen werden? Die Kugel war ganz klar für ihn bestimmt, nicht für den Pfarrer.

Wie ging es Iván?

Und warum vergammelte ich in einem Verhörraum?

So viele Fragen und keine Antwort.

Bevor ich den Raum gebracht wurde, bekam ich netterweise frische Klamotten zur Verfügung gestellt. Einen Pullover, auf dem das Wappen des FBI gedruckt war und dazu eine passende Jogginghose.

Die High Heels musste ich anlassen, was mich nicht kümmerte. Hauptsache ich steckte nicht mehr in dem blutbesudelten Brautkleid.

Die Metalltür öffnete sich. Ich setzte mich aufrecht hin, wodurch ich mein Kopf nicht mehr auf den verschränkten Armen lag, die auf dem Tisch ruhten.

Ich schaute zu dem attraktiven Mann Anfang dreißig. Er trug sein hellbraunes Haar zu einem Brush Cut und durch den kurzen Bart stach seine ausgeprägte Wangenmuskulatur hervor.

»Ms. Ross, mein Name ist special Agent Davis«, stellte sich der Agent vor. »Was soll das alles? Die Stürmung der Kathedrale? Die Schüsse? Es gab keinen Grund irgendwen zu erschießen!«, schossen die Fragen nur so aus mir heraus. »Eins nach dem anderen, Ms. Ross.«

Agent Davis setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber. Die Akte in seinen großen Händen legte er auf den Tisch. Sichtbar, nicht schwer zu erkennen, stand auf ihr: Hernández-Clan. Super.

Durch Dad kannte ich solche Beweisakten. Dass so eine vor mir lag, verhieß nichts Gutes.

»Ich will mich mit Ihnen unterhalten und Ihnen ein paar Fragen stellen.« Er verschränkte seine Hände. »Ich wurde von einem Informanten über die Hochzeit informiert. Speziell darüber, dass Sie Ms. Ross, Mr. Hernández nicht freiwillig heiraten wollen und er Sie entführt hat. Zum Glück konnten wir die Ehe rechtzeitig verhindern-« Er wurde durch meine aufgebrachte Stimme unterbrochen. »Verhindert, indem der Pfarrer eine Kugel in den Kopf bekommen hat, obwohl die Kugel sicherlich für Iván bestimmt war. Mein Vater ist ein Polizist, ich bin damit großgeworden, deshalb weiß ich, niemand darf einfach angeschossen oder erschossen werden! Abgesehen davon, wer soll dieser Informant sein? Mein eigener Vater vielleicht?«

Señora Hernández - Der Anfang vom EndeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt