1. Leon - Wahl

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„Das ist verdammt nochmal deine letzte Chance! Sei also kein Idiot und vermassle es wieder", schlug es mir um die Ohren und ich stöhnte innerlich auf. Der Tag war beschissen genug gewesen, da brauchte ich niemanden, der mir ans Bein pisste. „Ich hab keinen Bock, dich ständig aus der Scheiße zu ziehen." Die Stimme meines Gegenübers wurde immer schriller und ich rollte mit den Augen. Ich hasste das. Ich hasste das so sehr. „Hab ich vielleicht ein Cape um? Nein?!" Ich antwortete nicht. Schien eine rhetorische Frage zu sein und tatsächlich machte Sven weiter, ohne mich zu beachten. „Denn ich bin nicht dein Retter, und auf meiner Brust prangt verflucht noch mal nicht das Emblem eines Superhelden!" Ich blickte nicht einmal auf. Sollte er sich doch einfach die Seele aus dem Leib schreien, dann würde wenigstens er sich hinterher besser fühlen.

Für mich war es längst zu spät. Ich hatte keine Lust mehr. Auf diesen Tag. Auf dieses beschissene Leben. Wann durfte ich mich endlich verkriechen? Ich wollte doch einfach nur meine Ruhe. Also starrte ich weiterhin Löcher in den Boden und versuchte ihn auszublenden. Seine Worte auszublenden. Die, auch wenn ich es nicht wollte, an mir kratzten.

„Mensch, Leon!", fuhr er mich erneut an. „Das war nicht der Plan!" Da hatte er recht, nur war es von Anfang an nicht mein Plan gewesen. „Wir hatten eine Vereinbarung!", fauchte er weiter. Dann ließ er sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen und fuhr sich übers Gesicht. Nur ein Blick und es genügte. Ich hasste es, ihn zu enttäuschen, ihm weh zu tun, und doch, war es weder mein Plan noch meine Vereinbarung. Er hatte beides getroffen. Für uns beide. Für mich und mein Leben. Und es kotzte mich an. Jede beschissene Minute.

„Ich weiß nicht mehr weiter!", seufzte er und ließ den Kopf noch tiefer hängen. Sah niedergeschlagen aus, so wie ich mich schon die ganze Zeit fühlte.

„Sag mir, was ich tun soll?", flüsterte er in die Stille hinein. „Ich bin wirklich am Verzweifeln!"

Zur Hölle! Wieso nur lud er all diesen Ballast auf mich ab? Er wusste, dass ich im Moment kaum mit mir selbst klarkam und dann kam er mit diesem verdammten Bullshit an?! Also schloss ich die Augen. Zählte innerlich bis Tausend und weiter, wenn es unbedingt sein musste, in der Hoffnung, dass es half und ich nicht wieder ausflippte. Ihn wieder anschrie.

Er hatte keine Schuld. Das war mir bewusst. Es war meine Schuld. Auch das war mir durchaus bewusst. Aber ich konnte nicht anders. Da war diese Wut. „Zwing mich nicht!", presste ich zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor.

„Du lässt mir keine andere Wahl ...", flüsterte Sven tonlos. „Ich hab es versprochen und es muss sich was ändern. Du musst dich endlich ändern ... Das geht nicht mehr so weiter. Was kommt als Nächstes?"

Sein eiserner Blick ruhte auf mir und ich konnte nicht wegsehen. Diese dunklen Augen, die auf mir ruhten, mich in den Wahnsinn trieben. Ich musste weg hier. Also erhob ich mich von meinem Stuhl.

„Leon!", rief er sogleich und ergriff mich am Handgelenk. „Wo willst du hin?"

Ich versuchte ihn abzuschütteln, doch er ließ nicht locker. „Wir zwei schaffen das!", versicherte er mir. „Ich bin für dich da, du musst dich mir nur öffnen ...!"
„Es gibt kein wir. Es gibt immer nur ein ich und ich war und bin immer allein!" Ja, ich klang verbittert, aber das war genau das, was ich fühlte.
„Du weißt, das ist nicht wahr!" Er griff noch fester zu. Seine Finger, die wie ein Schraubstock um mein Handgelenk lagen, begannen langsam weh zu tun. Es störte mich nicht. Ich hieß den Schmerz willkommen. Endlich mal ein anderes Gefühl.
„Wenn du es nicht durchziehst, schmeiß’ ich dich raus!" Mein Kopf fuhr herum und ich blickte ihm entsetzt ins Gesicht. „Das würdest du nicht!", hauchte ich und konnte nicht fassen, dass er das gerade tatsächlich gesagt hatte. „Wenn du mich dazu zwingst!", erwiderte er und ließ mich nicht aus den Augen. 
„Es ist ein Monat!", fing er nun versöhnlicher an. „Nur ein Monat! Mach was draus. Nimm es an. Nimm es ernst! Dann ..." „Dann was?", fiel ich ihm ins Wort. „Wenn du jetzt sagst, ‚dann wird alles gut', kotze ich!"
„Das ist meine Bedienung! Nimm es an, oder wir sind getrennte Leute!", er klang ausdruckslos und das ließ mich erschaudern. Er meinte es ernst! Panik ergriff mich. Ich hatte doch nur noch ihn!

„Fick dich, Sven!", fauchte ich und riss mich los. Ich musste weg hier. Weg von ihm, weg von meinem beschissenen Leben.

Also lief ich aus dem Wohnzimmer, lief das kurze Stück über den Gang und schlug die Tür hinter mir zu. Vor dem Bett angekommen, ließ ich mich einfach fallen. Griff nach dem Kissen und vergrub meinen Kopf darunter.

Der imaginiere Ring, um meinen Hals, schnürte mir immer mehr die Kehle zu. Ich griff danach und keuchte. Versuchte Luft in meine Lunge zu bekommen, aber nichts ging mehr. Diese Panik. Diese Angst. Ich wollte hier nicht weg. Nicht weg von Sven. Er war der Einzige, bei dem ich mich halbwegs wohlfühlte. Bei dem ich mich wenigstens ab und an selbst ertrug. Wo sollte ich nur hin? Dann wär ich wirklich allein.
Ein Schluchzen bahnte sich nach oben, doch ich schluckte hart. Nein! Nein, das wollte ich nicht. Nicht schon wieder ein Zusammenbruch.

„Fuck!", schrie ich und drehte mich auf den Rücken. Presste mir das Kissen aufs Gesicht und schrie. Schrie, so fest ich konnte, und erstickte gleichzeitig meinen Schrei. Ich fühlte mich nicht besser, aber wenigstens war der Druck von meiner Kehle weg und ich konnte wieder etwas zu Atem kommen. Also rollte ich mich auf die Seite. Schob mir das Kissen unter den Kopf und schloss die Augen. Versuchte, alles um mich herum zu vergessen. Mein Hirn abzuschalten, um endlich Ruhe zu finden. Aber es gelang mir nicht. Dann hörte ich die Schritte im Flur. Er kam. Das tat er immer.

Leise öffnete sich die Tür und ich kniff die Augen noch fester zusammen. Die Matratze gab nach, als er sich zu mir aufs Bett setzte und mir durch mein pechschwarzes Haar fuhr.

„Du weißt ...", sagte er leise. „... ich hasse es, mit dir zu streiten ..." Ich erwiderte nichts. Blieb einfach liegen und tat so, als würde ich ihn nicht hören. „Ich kann das Gesagte nicht zurücknehmen. Das weißt du ...", ergänzte er, während seine Finger mich immer weiter streichelten. Mich etwas beruhigten. „Bitte, Leon ... lass es nicht so weit kommen!"

Ganz automatisch ballte ich die Hände zu Fäusten. Ich wolle das nicht hören. Er sollte mich nicht bitten. Nicht so. Seufzend hielt er in der Bewegung inne, zog seine Hand weg. Und ich vermisste sie. Vermisste das Gefühl, welches sie mir schenkte. Ruhe und Geborgenheit.

„Hier ist die Visitenkarte mit der Adresse. Am Montag um 14 Uhr sollst du da sein." Wieder bewegte sich die Matratze und Sven erhob sich. „Ich leg’ sie dir hier hin", sprach er weiter, in dem Wissen keine Antwort zu erhalten, und ging.

Bei der Tür hielt er kurz innen und ich wappnete mich innerlich. Ich wusste nicht, ob ich heute noch mehr ertragen konnte. Es war zu viel. Erst das Gespräch im Büro des Direktors und jetzt das.
Doch Sven sagte nichts. Er schloss lediglich leise die Tür und einen Augenblick später entfernten sich die Schritte auf dem Flur. Ich war allein. Wieder allein.

Also drehte ich mich erneut auf den Rücken und starrte hoch zur Decke. Direkt über mir schimmerte ein roter Fleck. Seit fast 3 Jahren schon. Seit dem Sommer, an dem ich zu Sven gezogen war und diese fiese Mücke erschlagen hatte. Eineinhalb Jahre, die wie Rauch verflogen waren. Alle anderen Gedanken schob ich beiseite.

Nach einer Weile griff ich nach der Karte auf meinem Nachttisch. Ließ sie durch meine Finger gleiten. Fühlte ihre Rauheit. Es war eine sehr edle Visitenkarte. Dickes, schweres Papier in einem dunklen Grau. Mit silberner geschwungener Schrift stand da „Privatklinik Schloss bei den Buchen". Erneut schloss ich die Augen, legte die Karte auf meine Brust und sog lange Luft in meine Lungen. Ich hatte die Wahl. Und doch hatte ich keine. Würde ich bleiben wollen, müsste ich gehen.

Wollte ich bleiben?

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt