Große eisblaue Augen musterten mein Gesicht, ohne zu blinzeln. Keine Ahnung, ob er schüchtern war oder ob er mich absichtlich einfach ignorierte. Ich tippte auf Letzteres. Das Einzige, was ich über ihn wusste, bestand darin, dass er keine Lust hatte hier zu sein. Das waren echt gute Voraussetzungen, und wenn es so weiter lief, bräuchte ich in den nächsten vier Wochen gute Nerven.
Erneut scannten meine Augen seine Statur. Sein schlanker, drahtiger Körper steckte in einem schwarzen Nirvana Shirt und ebenfalls dunklen, verwaschenen Jeans. An beiden Armen baumelten Lederbänder. Sein schwarzes, volles, glattes Haar hing ihm über die Ohren und umspielte sein hübsches Gesicht. Ja, er sah wirklich gut aus, selbst wenn er, wie jetzt, verkniffen dreinschaute und seine sonst vollen Lippen zu einem Strich verzog. Auf Witze stand mein Gegenüber wohl nicht.
„Wie alt bist du eigentlich?", fragte ich, nach dem ich meine Musterung beendet hatte. Er sah nicht so jung aus, wie ich erwartet hatte. Bei Schule hatte ich irgendwie einen Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen im Kopf gehabt, aber aus diesem Alter schien er schon rausgewachsen zu sein.
„Neunzehn", erwiderte er und seine tiefe Stimme sorgte zum wiederholten Mal für Gänsehaut. Vielleicht war es an der Zeit, mal wieder einen Besuch im Heaven einzuplanen, wenn ich schon auf einen wildfremden Praktikanten reagierte.
Es war soviel los gewesen in letzter Zeit, dass ich abends einfach nicht die Energie und den Elan aufbrachte, mich aufstylen und die halbe Nacht in einem Klub zu verbringen. Aber Handarbeit reichte eben doch nicht, wenn sich der eigene Körper insgeheim nach einem anderen sehnte.
Neunzehn ... ging es mir durch den Kopf, ja, danach sah er schon eher aus. Kaum, dass er geantwortet hatte, senkte er den Blick, sodass ihm sein dunkles Haar in die Augen fiel und er sich wieder auf Dante konzentrierte. Nur kurz verspürte ich sowas wie Eifersucht, weil er meinem Hund mehr Aufmerksamkeit schenkte wie mir, strich es aber beiseite. Vielleicht brauchte er auch einfach nur Zeit, um aus sich herauszukommen. Schließlich war ich vor gar nicht mal so langer Zeit, auch mal so jung gewesen. Und wenn man dann auch noch wozu gezwungen wurde, auf was man gar keinen Bock hatte, dann konnte das schon aufs Gemüt drücken.
„Wie sind meine Arbeitszeiten?", fragte er plötzlich und ich wollte ihm schon voller Freude dafür gratulieren, dass er mehr als ein Wort am Stück zu meiner Wenigkeit gesprochen und dazu noch selbstständig eine Frage formuliert hatte, biss mir aber auf die Zunge. Ja nicht verschrecken, sonst sprach er vielleicht die nächsten Stunden, oder nie wieder ein Wort mit mir.
„Wie sind denn deine Schulzeiten?", wollte ich stattdessen wissen, um besser auf ihn eingehen zu können, und schien wohl gleich mal einen Kopfsprung in ein Fettnäpfchen zu machen, denn Leon senkte erneut seinen Blick und biss sich auf die Lippen.
Eine Weile sagte keiner von uns beiden ein Wort und als es langsam anfing ungemütlich zu werden und ich gerade zum Sprechen ansetzen wollte, kam er mir in letzter Sekunde zuvor. „Ich bin die ganze Woche suspendiert", presste er hervor und biss sich erneut auf die Lippe. Ob das ein Tic war? „Danach hab ich Montag, Mittwoch und Freitag bis um eins und Dienstag und Donnerstag Nachmittagsunterricht bis um vier."
„Okay ...!", sagte ich gedehnt und überlegte noch, ob ich nachfragen sollte, wieso zur Hölle er für eine Woche suspendiert wurde, ließ es aber dann doch lieber sein. Erstens, ging es mich nichts an und zweitens, erzählte er es mir vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt ganz von alleine. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Und noch kam mir gar nicht in den Sinn, ihn aufzugeben, nur weil er mir gekonnt die kalte Schulter zeigte. „Wie wäre es, wenn du diese Woche dann von neun bis fünf hier bist, um einen richtigen Eindruck von der Arbeit zu bekommen und ab nächster Woche an zwei Tagen, an denen du keinen Nachmittagsunterricht hast, von drei bis sechs? Die Tage kannst du dir gerne selbst aussuchen."
Erneut ließ er seine langen Finger durch das Fell von Dante gleiten und zuckte mit den Schultern. Ob die Antwort jetzt ja, nein oder mir doch scheißegal hieß, durfte ich mir wohl selbst aussuchen.
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Unter Verrückten
RomanceJetzt hatte ich schon wieder alles verbockt! Mal wieder, aber dieses Mal so richtig! Ein Wunder, dass mir Sven dafür nicht den Kopf abgerissen hatte ... stattdessen drückte er mir diese bescheuerte Visitenkarte auf. "Privatklinik Schloss bei den Buc...