19. Leon - Hoffnung und Fall

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„Oh Gott ...", stieß ich hervor. Ließ mich gegen die Tür sinken und entlang des Holzes nach unten gleiten. Auf den Fliesen angekommen presste ich mein Gesicht in meine Hände und stöhnte auf.

Was zum Teufel hatte mich da geritten? Hatte ich jetzt ganz den Verstand verloren? Es gab nur eine Erklärung. Ich war verrückt. Einfach nur verrückt! Durchgeknallt. Besoffen und durchgeknallt. „Verdammt ..."

Eine feuchte, kalte Nase stupste gegen meine Hand und warmer Atem streifte mich. Langsam senkte ich die Arme und begegnete warmen Augen. „Oh Dante!", presste ich hervor und erneut liefen heiße Tränen meine Wangen hinab. „Wieso ...", schluchzte ich. „Wieso bin ich nur so ein Idiot?!"

Griff ihn um den Hals und zog ihn an mich. Vergrub mein Gesicht in sein Fell, atmete tief ein. Wärme breitete sich in mir aus und ich hatte das Gefühl, endlich gebremst zu werden in meinem Fall nach unten. „Vielleicht sollten wir zwei einfach abhauen?", schlug ich Dante vor, der zur Antwort lediglich schwieg. „Hast recht ...", bestritt ich die Unterhaltung weiterhin allein. „Phil würde uns das wohl nicht verziehen." Bei seinem Namen schmiegte sich Dante nur noch näher an mich heran. „Ob er mir böse ist?", fragte ich und fing an, Dante zu streicheln. Ein tiefes wohliges Brummen ging durch seinen Körper, meine Streicheleinheiten schienen wohl zu gefallen. „Weißt du ...", gab ich zu. „... ich hab euch beide echt lieb." Beugte mich erneut vor und drückte den Hund an mich. Fühlte sein weiches Fell. Spürte seine Wärme und kam endlich etwas zur Ruhe. Trotzdem blieb ich noch einen Moment sitzen, stahl mir die Zeit und genoss die Zweisamkeit mit ihm, bevor ich mich erhob und duschte, wie mir auferlegt worden war.

Mit einem Handtuch um die Hüften trat ich aus dem Bad und begegnete Phils Blick, der mit verschränkten Armen an der Wand gegenüber der Badtür lehnte. Kurz glitten seine Augen über meinen Körper und hinterließen ein Kribbeln. Es gefiel mir, wie er mich ansah. Sorgte dafür, dass sich in meinem Inneren eine Wärme ausbreitete. Wie zuvor schon bei Dante. Fast so, als wäre ich ihm wichtig. Es tat mir gut, hier zu sein. Bei ihm und bei Dante. Und am liebsten würde ich nie wieder gehen. Ein gefährlicher Gedanken. Einer, der mich garantiert, irgendwann in ein tiefes Loch fallen lassen würde. In ein noch viel Tieferes, als das, in das ich jetzt schon stürze.

Es war nicht gelogen, als ich sagte, ich merkte, dass ich ihn anmachte. Aber was dann? Konnte ich ihn halten? Nur mit Sex? Denn was sollte er mehr von mir wollen? Aber scheinbar reichte nicht einmal das aus, immerhin hatte er mich vorhin auch von sich gestoßen. Und das, obwohl er mich hätte haben können. Es wäre so einfach gewesen. Wieso nur konnte ich allein nicht genug sein? Niemanden reichen?

Ich hielt in der Bewegung inne. Unsere Augen trafen sich und ich biss mir auf die Lippe. Überlegte fieberhaft, was ich sagen sollte. Ob ich mich für mein Verhalten entschuldigen sollte, oder ob es das Beste wäre, einfach zu gehen und diese Peinlichkeit zu vergessen.

Fröstelnd, weil die Situation mich extrem abkühlte, verschränkte ich schützend die Hände vor der Brust. Betrachtete schweigend sein Gesicht und versuchte, etwas darin zu lesen. Aber es wirkte ausdruckslos. Fast so, als wollte er nicht zeigen, was in ihm vorging.

„Ich ...", fing ich stotternd an. „Ich hol' nur meine Sachen und dann bin ich weg", fügte ich an, drehte mich um und wollte wieder zurück ins Bad flüchten. Diese Stille, dieses Schweigen, diese ausdruckslose Musterung hielt ich einfach nicht Stand. Sie ließ mich wanken. Noch mehr an mir zweifeln und mich als Störenfried, der ich nun mal war, fühlen. Doch da legte sich plötzlich eine Hand um meinen Ellbogen und ich wurde mit einem Ruck nach hinten gezogen. Herumgewirbelt und prallte gegen eine nackte Brust.

„Du bleibst hier!", flüsterte Phil bestimmt und drückte mich an sich. Seufzend schloss ich die Augen und nahm, was ich bekam. Vielleicht konnte ich heute doch genug sein. Wofür auch immer. Und das wichtigste, ich musste nicht gehen. Ich wollte es nicht! Ich wollte bei ihm bleiben. Bei ihm und bei Dante. Wollte seine Wärme, seine Nähe. Wollte ihn.

Vorsichtig hob ich meinen Kopf, unsere Blicke trafen sich. Mein Mund wurde trocken und ich musste mir über die Lippe lecken. Sah nur noch die seinen, wollte mich strecken, ihn berühren, küssen, schmecken. Traute mich aber nicht mehr. Eine erneute Abfuhr würde ich heute nicht verkraften wollen. Außerdem hatte ich Angst, doch noch vor die Tür gesetzt zu werden. Das Risiko war viel zu groß. Und doch waren da nur noch seine Lippen. Weich, einladend und so nah. Zogen mich magisch an. Flüsterten mir zu. Ich umklammerte Phil fester. Suchte Halt und hielt mich fest. So konnten meine Arme nicht nach oben schellen. Sein Gesicht mit meinen Händen umschließen und ihn zu mir ziehen.

Kurz huschte ein Lächeln auf seine Lippen und ich blinzelte irritiert, weil ich dachte, dass mir etwas entgangen sein musste. Doch da bewegten sich diese Lippen plötzlich auf mich zu. Kamen näher und mein Herzschlag setzte aus.

Kam jetzt, was ich ahnte, was jetzt kommen würde? Oder spielte mir mein, noch immer etwas vom Alkohol vernebeltes Hirn, einen Streich? Doch bevor ich mir meine Frage selbst beantworten konnte, legte sich sein Mund auf den meinen und mein Atem stockte.

Sanft und weich war seine Berührung und meine Augen fielen zu. Ich schloss sie, blendete alles aus, bis auf seinen Kuss. Nichts, absolut gar nichts war mit diesem vergleichbar und ich hatte schon viele Kerle geküsst. Aber dieser hier war so anders. Kribbelte völlig woanders und löste zwar auch eine Sehnsucht nach mehr aus, aber auch dieses 'mehr' unterschied sich.

Es war so, als würde sein Kuss mich auffangen. Mich halten. Mir Sicherheit geben.

Seufzend und das Spiel seiner Lippen erwidernd, gingen meine Arme doch auf Wanderschaft, fuhren hoch. Legten sich um seinen Hals und ich schmiegte mich noch enger an ihn heran. Ließ mich fest an ihn ziehen und genoss diesen perfekten Augenblick, in der Hoffnung, er würde nie enden.

Doch kaum war dieser Gedanke zu Ende gedacht, ließ uns das Läuten der Tür auseinanderfahren.

Fragend sah ich Phil an, der genauso irritiert dreinschaute. Da wurde die Klingel erneut betätigt und wir machten uns beide auf den Weg Richtung Tür. Schon beim Näherkommen vernahm ich Stimmengewirr davor und eine leise Vermutung machte sich in mir breit, sodass ich gerade dazu ansetzten wollte, Phil zu bitten nicht aufzumachen, da öffnete er aber schon die Tür, und mein liebster, sichtlich aufgebrachter Onkel stürzte herein, gefolgt von Marek.

Sven blieb stehen, kaum, dass er die Türschwelle überschritten hatte und musterte zuerst Phil und dann mich fassungslos. Augenblicklich wechselte sein Gesichtsausdruck von besorgt zu wütend. Doch statt mich anzubrüllen, wirbelte er herum und knallte fast in Marek herein. Stolperte einen Schritt rückwärts, um auf Abstand zu gehen und fing an sein Gegenüber anzuschreien.

„So sieht für dich also Kümmern aus?", warf er ihm um die Ohren und deutete hinter sich, ohne auch noch ein weiteres Mal über die Schultern zu sehen.

Marek, der bleich geworden war, knetete lediglich die Finger, öffnete den Mund, doch bevor er sich zum Sprechen bewegen konnte, machte Sven schon weiter. „Was stimmt mit euch nicht? Wie konnte ich nur so bescheuert sein, nochmal deine Hilfe zu suchen? Dann schiebst du meinen Neffen ab und dein Bruder vögelt ihn?"

„Sven...", ging ich dazwischen und trat einen Schritt auf ihn zu. „Zieh dich an und ab ins Auto!", befahl er, kaum, dass sein Blick mich kurz über die Schulter streifte. „Weißt du eigentlich, was es bedeutet Verantwortung zu tragen?", wandte er sich wieder an Marek, ballte die Hände zu Fäusten. „Ich hatte dir vertraut! Wieder vertraut!", schrie er weiter und ich verschwand ins Bad, um meinen Sachen zu holen und mich anzuziehen. Egal wie falsch er lag, er würde bestimmt nicht mit sich reden lassen, wenn ich weiter nur im Handtuch um die Hüften da stand. Aber das bekamen die drei sowieso nicht mit. Während Sven Marek anschrie, beobachtete Phil lediglich etwas erschrocken die Situation. Angezogen konnte ich immer noch Licht ins Dunkle bringen und ich würde nicht gehen. Nicht mit ihm mitfahren. Da konnte er schreien und herumteufeln so viel er wollte.

Im Bad schlüpfte ich in Hose und Shirt und kam barfuß wieder zurück zu den dreien, die immer noch völlig mit sich selbst beschäftigt waren. Lediglich Phil registrierte, dass ich wieder da war und ich warf ihm das Shirt rüber, das im Bad ganz oben auf seinem Wäschestapel gelegen hatte.

„Danke!", formte er mit den Lippen und ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Auch er lächelte kurz und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Wären die beiden nicht aufgetaucht, könnte ich immer noch in seinen Armen liegen. Aber nein, Sven musste hier ein Drama veranstalten und irgendwas sagte mir, dass es dabei nicht um mich ging. Schon lange nicht mehr.

„Sven", rief ich ihm laut zu, um ihn in seinem Gebrüll zu übertönen. Blickte kurz über die Schulter zu mir und schien kurz irritiert, bevor er: „Gut, ab ins Auto", verkündete. „Nein. Ich bleibe bei Phil", konterte ich und blieb stehen, wo ich stand. Jetzt hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. Denn er drehte sich zu mir herum und sah mich entsetzt an. Bevor er blinzelte und einen Schritt auf mich zukam.

„Geh. Ins. Auto", forderte er mich, jedes Wort einzeln betonend, auf. „Du wirst ihn nie wieder sehen. Haben wir uns verstanden?!", zischte er weiter und seine Augen verengten sich noch mehr. „Nie wieder!", setzte er hinzu und zeigte hinter sich auf die Tür. „Und jetzt ab ins Auto."

„Nein!", erwiderte ich bestimmt und ließ mich nicht von ihm einschüchtern. Hatte er einen Vogel? Nur weil er sich hier irgendwas zusammen reimte und dann auch noch auf einem Rachefeldzug gegen seine verflossene Liebe befand, brauchte er mich nicht so dumm anzumachen. Und selbst wenn hier was gelaufen wäre, von dem er ja ausging, würde ihn das einen Scheißdreck angehen!

„Was heißt hier nein?", knurrte er zurück.

„Ich bleibe hier!", gab ich entgegen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Außerdem hat Phil gar nichts gemacht! Ich bin zu ihm gekommen und ich war nur unter der Dusche!", rechtfertigte ich mich, obwohl ich nicht das Gefühl hatte, dass ich es musste.

Ich hatte ihn echt lieb. Aber ich war auch volljährig und ich konnte meine eigenen Entscheidungen treffen.

Kurz schloss Sven seine Augen, bevor er sie erneut aufschlug. „Wenn du nicht augenblicklich zum Auto gehst, sag' ich Maria, dass ich nicht mehr gewillt bin, dich bei mir zu haben", sprach er zu Ende und presste die Zähne so fest aufeinander, dass der Kiefer weiß hervorstach.

Fassungslos starrte ich ihn an. Das war doch nicht sein Ernst?! Wut schoss mir durch den Blutkreislauf und ich ballte die Fäuste. Er erpresste mich! Wenn ich nicht hörte, musste ich zurück zu meiner Mutter? Was sollte der Scheiß! Er wusste, dass ich eher sterben würde, als wieder zu einem von den beiden zurückzugehen!

Die Zeit schien still zu stehen. Unser Blickduell aufrechterhaltend, schäumte das Blut in meinen Adern über. Ich konnte seinen Anblick nicht ertragen. Das hier war ein Verrat. An mir. An unserer Freundschaft. Hatte er nicht vor kurzem erst gesagt, wir gehörten zusammen? Das schien wohl alles vergessen zu sein. Oder schlicht und ergreifend eine Lüge!

Es reichte! Das hier war alles zu viel für mich. Zu viel Enttäuschung an einem Abend! Also stürmte ich los, rempelte ihm dabei hart gegen die Schulter, weil er sich keinen Millimeter aus dem Weg bewegte. Klirrend fiel ein Gegenstand zu Boden und ich bückte mich automatisch einer Eingebung folgend danach. Hob die Schlüssel auf und erhob mich wieder. Schulter an Schulter blickten wir uns wuterfüllt in die Augen.

„Egal was. Ich geh' nicht zu ihr zurück. Eher friert die Hölle zu! Wenn du mich nicht willst, dann herzlichen Glückwunsch. Ich bin dann weg!", zischte ich ihm zu. Setzte mich in Bewegung und lief davon.

„Leon", war es Phil, der mir nachrief. Doch ich musste weg hier. Lief noch schneller. Nahm zwei Stufen auf einmal und stürzte nach draußen. Ich musste wirklich weg hier! Es tat mir leid für Phil und am liebsten wäre ich bei ihm geblieben, aber das ließe Sven bestimmt nicht zu.

Gut, er hatte das Auto wenigstens direkt vor der Tür geparkt, so umrundete ich es, und schloss es noch während des Laufs auf. Riss die Tür auf, ließ mich auf den Fahrersitz gleiten und startete den Motor. Als ich losfuhr, riskierte ich einen Blick aus dem Fenster, nur um ihn das entsetzte Gesicht von Phil zu blicken.

„Es tut mir leid!", flüsterte ich. „Es tut mir leid."

Aber ich musste weg hier. Weg von Sven. Weg von allem. Dieses Chaos, diese Wut, diese Enttäuschung in mir, konnte ich kaum aushalten. Ihn auch nur eine Sekunde länger anzusehen, hätte ich nicht ertragen.

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt