22. Phil - die ganze Geschichte

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Gut. Jetzt hatten wir alle beide eine Herzattacke erlitten. Vorsichtig wendete ich meinen Blick ab von Marek und sah hinüber zu Sven. Dieser starrte lediglich meinen Bruder an und ich konnte es ihm nicht verübeln. Ich hätte Marek wahrscheinlich für diese Antwort längst den Hals umgedreht, oder wäre so wie Sven völlig in Schockstarre verfallen.

Die beiden sahen sich an. Völlig ruhig. Beide Gesichter völlig ausdruckslos. Bis plötzlich ein Ruck durch den Körper von Leons Onkel ging, er sich umwandte und davon lief. Kurz darauf hörte man das Zuschlagen der Badtür.

„Oh mein Gott, Marek!", stöhnte ich auf. „War das denn nötig?!" Ich mein, natürlich hatte Sven eine ehrliche Antwort verdient. Aber das?! Wem hatte er mit diesem gewichtigen Geständnis nun geholfen?

„Scheiße!", fluchte mein Bruder, stolperte zurück und ließ sich auf das Sofa fallen.

„Mensch, du bist Psychologe. Ist denn rein gar nichts aus deiner Ausbildung hängen geblieben?", rutschte es aus mir heraus und ich bereute es im gleichen Atemzug. Aber diese ganz Situation mit Leon, mit den beiden, zerrte massiv an meinen Nerven.

„Verdammt, Phil! Ich weiß! Ich weiß! Ich weiß! Er wollte die Wahrheit, er verdiente sie! Und auch ich bin nur ein Mensch!" Dabei ließ er Kopf und Schultern hängen. „Ich weiß, dass es falsch war. Dass ich meine Last auf ihm abgeladen hatte. Dass ich damit nur mein inneres Chaos beruhigen wollte. Wenn es dich beruhigt, es hat nicht funktioniert! Es ist nicht besser geworden. Oh Gott ... Phil ... was soll ich nur tun?"

Augenblicklich setzte ich mich in Bewegung und trat auf Marek zu. Setzte mich neben ihn und legte meinen Arm um ihn. Ich wusste es nicht. Und ich war auch, wenn ich ehrlich war, nur mit halbem Herz dabei. Der andere Teil in mir machte sich immer noch verrückt wegen Leon. Der irgendwo da draußen durch die Nacht irrte. Wieso kam er nicht einfach zu mir zurück? Das wäre so einfach.

„Rede mit ihm", sagte ich schließlich. „Du weißt, das hilft. Und Zeit. Gib ihm Zeit. Schau, er hätte auch ganz gehen können, stattdessen ist er lediglich in meinem Bad. Das heißt, er bleibt erreichbar." „Er will bestimmt nur hier auf Leon warten", gab mein Bruder retour und ich unterdrückte ein Schnauben. Natürlich war das auch eine Möglichkeit, aber nach dieser Offenbarung, bezweifelte ich, dass Sven irgendwie rational denken konnte. Er hatte lediglich den erstbesten Schutz gesucht. Mein Bad war immerhin das Einzige in meiner Wohnung, was er kannte.

„Und wenn schon!", gab ich letzten Endes zu bedenken. „Er ist hier, oder? Dann nutz es aus! Geh rüber zu ihm und rede mit ihm. Von mir aus durch die Tür sollte er abgesperrt haben. Das ist deine Chance, es zu klären. Aber bitte! Keine Liebesschwüre! Du hast ihm zehn Jahre lang das Gegenteil bewiesen. Das sind nun Tropfen auf dem heißen Stein. Er wird dir das sowieso nicht glauben." „Ich weiß", seufzte Marek und ich zog ihn nochmal an mich. „Dann werd' ich wohl gehen", sagte er, blieb aber sitzen, statt sich zu erheben. „Marek?", fragte ich nach einer Weile nach, in dem er sich immer noch nicht gerührt hatte. „Was, wenn er mir nie glauben wird? Nie verzeihen wird?", erwiderte mein Bruder und ich zog ihn fester an mich. Verstand seine Angst. Seine Befürchtung. Sich zehn Jahre selbst zu belügen und sich etwas vorzumachen war das eine, mit der Wahrheit und dem Verlust leben zu müssen, mit dem Wissen es gäbe keine Hoffnung, etwas völlig anderes. „Noch ist es nicht so weit! Und wenn es so weit sein sollte, dann überlegen wir uns einen Plan B."
Nickend, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass meine Worte keinen Trost spendeten, erhob er sich von seinem Platz und ging in die Richtung meines Bades.

„Scheiße, scheiße, scheiße!", fluchte ich seufzend. Ich war so fix und fertig! Diese Geschichte mit meinem Bruder und Sven, dazu die Ungewissheit was mit Leon los war, machten mich verrückt! Und das Beschissene, er konnte sich nicht einmal melden. Hatte meine Nummer nicht, weil ich sie ihm nie gegeben hatte! Wie konnte ich nur so ein Idiot sein? Wie nur? Dass er gar kein Handy bei sich hatte, überging ich einfach.

„Sven", ertönte Mareks Stimme und ich verfluchte meine winzige, hellhörige Wohnung. Wieso musste ich alles mitbekommen? Aber weg konnte ich auch nicht. Immerhin hing mein Handy immer noch am Aufladen und das Telefon war auch hier. Außerdem hatte Marek sein Handy mitgenommen und sollte ein Unfall gemeldet werden, auf den Leons Beschreibung passen würde, würden wir als Erstes davon erfahren. Also blieb mir nichts anderes übrig, als sitzen zu bleiben und abwechseln der Stille und Mareks Worten zu lauschen.

„Es tut mir leid. Es war unfair von mir, dir das so vor die Füße zu knallen", begann mein Bruder zu sprechen und klang traurig dabei. Er versuchte es, aber er glaubte nicht daran, dass seine Worte etwas bewegen konnten. Ich hoffte für ihn, dass er sich irrte. Immerhin machte Sven nicht den Eindruck, als wäre er schon über Marek hinweg. „Das mit uns hat damals nicht in mein Weltbild gepasst", sprach er weiter und seufzte. Er schien wohl keine Antwort durch die Tür zu erhalten. „Ich hatte einen Plan. Du kennst mich doch. Ich hatte immer einen Plan und ich hielt mich stets daran. Und der damalige bestand darin, die Klinik zu übernehmen, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Da war kein Platz für ...", er hielt inne, schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Nach einer Schwärmerei für meinen besten Freund", sagte er schließlich und ich rollte unwillkürlich mit den Augen. Irgendwie klang das falsch, vor allem, nach dem er zuvor noch ganz andere Worte benutzt hatte. „Ich war mit Luisa und ein paar Freunden am See und es hatte mich so gewurmt, dass du nicht mitgekommen warst zum Zelten. Es war eine unserer letzten Partys zusammen, bevor jeder auf seine eigene Uni gegangen wäre. Ich war so sauer auf dich. Ich hab getrunken, was sonst nicht meine Art war und Luisa hat mich mit sich in unser Zelt gezogen. Sie küsste mich, ging mir an die Wäsche und währenddessen hab ich die ganze Zeit nur daran gedacht, dass du nicht da bist. Also täuschte ich einen Anruf vor und verschwand. Machte mich auf den Weg zu dir, nur um dich vor dem Wohnheim mit einem anderen Kerl zu sehen. Ihr habt gelacht und er hatte dich immer wieder berührt. Mit dir geflirtet und du hast zu ihm hochgesehen und hast ihn angestrahlt. Da bin ich fast durchgedreht vor Eifersucht, doch du hast dich nur von ihm verabschiedet und bist in die Wohnung. Ich folgte dir. Läutete und ...", er hielt inne, räusperte sich, bevor er weiter sprach. „Nun ja, den Rest kennst du ja. Am nächsten Morgen, als ich neben dir im Bett aufgewacht war, läutete mein Handy. Luisa war dran. Fragte, wo ich steckte und erinnerte mich an den Brunch mit meinem Vater. Da bekam ich Panik. Erinnerte mich an meinen Plan und sah ihn wanken. Ich konnte doch nicht alles aufgeben ... alles auf den Kopf stellen, worauf ich so hart hingearbeitet hatte ..." Ich hörte regelrecht den Schmerz in seiner Stimme und konnte mir den Rest der Geschichte denken. Er war ausgestiegen und hatte alles abgerissen, was ihn an Sven erinnert hatte. Und inzwischen, zehn Jahre später, stand er seinem Geist der Vergangenheit gegenüber und es hatte sich scheinbar nichts für ihn geändert. Egal welchem Leben er auch nachgejagt war, nichts hatte ihn glücklich machen können.
„Wenn ich könnte ...", er hielt innen, suchte nach den richtigen Worten, oder auch nach Mut. Wer war ich schon, um das zu beurteilen. „Würde ich die Zeit zurückdrehen, dann ... dann wäre ich nicht gegangen."

Ich schloss die Augen und seufzte. Was für eine Geschichte. Was für eine Scheiße! Nur weil meinen Bruder ein Feigling war, hatte er so viel Unheil über Sven gebracht. Über Sven und über sich selbst. Aber ich verstand ihn auch ein bisschen. Ich kannte ihn schon mein Leben lang. Er wich nie von seinen Plänen ab. Nie. Und dieser Plan hatte Sven nun mal nicht vorgesehen.

Aber auch, wenn man etwas unbedingt haben wollte. Wie alle anderen sein wollte. So reichte das am Ende doch nicht aus, wenn es nicht seiner eigenen Bestimmung entsprang. Und das Leben hatte für Marek wohl keine Ehefrau und Kinder vorgesehen, sondern Sven. Nur hatte mein Bruder etwas gebraucht, um das zu verstehen.

„Sven ...", bat mein Bruder, also schien sein Gegenüber nicht durch die Tür zu ihm zu sprechen. Doch plötzlich hörte man eine Tür und Schritte, die eilig auf das Wohnzimmer zueilten. Augenblicklich stand ich vom Sofa auf und erblickte Sven, der mit seinem Handy am Ohr durch die Tür rauschte.

„Leon geht es gut", formte er tonlos mit den Lippen, während er weiterhin dem Telefonat lauschte.
„Wirklich?", fragte er anschließend fassungslos. „Und dann?" Ich verstand kein Wort, von dem Gesagten, es klang lediglich nach einer weiblichen Stimme. „Okay. Danke, Marie und gute Nacht." Dann legte er auf. Sah mich an. Blinzelte.
„Leon geht es gut. Er war gerade bei meiner Schwester und hat mit ihr geredet. Normal", setzte er ungläubig hinzu.

Erleichterung flutete meinen Körper. Ihm ging es gut. Er lebte und ihm ging es gut. Etwas Besseres konnte es nicht geben.
„Kommt er zurück?", wollte ich wissen, in der Hoffnung, dass er jeden Augenblick wieder an meiner Tür klopfte, doch Sven machte diese Hoffnung mit einem knappen Kopfschütteln zunichte. „Er sagte, er müsse noch etwas erledigen."

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt