11. Leon - eine Enttäuschung kommt selten allein

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„Kommst du mal bitte her?", bat mich Sven und allein anhand seiner Stimmlage ahnte ich das Schlimmste. Diesen Ton schlug er immer an, wenn es um meine Erzeuger ging. Das konnte ich gerade gar nicht gebrauchen. Mein Alltag, mit Phil und den Kids, war anstrengend genug. Da konnte ich mich nicht auch noch mit familiären Dramen rumschlagen. Also blieb ich lediglich im Türrahmen stehen und sah zu meinem Onkel rüber, der auf dem Sofa saß und noch die Fernbedienung in der Hand hielt, weil er ihn gerade auf stumm geschaltet hatte.

„Was?", fragte ich, weil er nichts sagte, mich aber kritisch von der Seite musterte. So als würde er jedes Wort abwägen müssen und ich wurde nervös. Das war ganz und gar kein gutes Zeichen.

„Leon, bitte! Setzt dich doch zu mir", startete er einen neuen Versuch. Nein, jetzt erst recht nicht! Was auch immer er zu sagen hatte, ich würde auf Abstand bleiben.

„Spuks schon aus!", fuhr ich ihn an und versuchte mich zu wappnen. Was auch immer da kommen musste, würde mir nicht gefallen, da war ich mir mittlerweile sicher. „Kurz und schmerzlos, wie bei einem Pflaster!", bat ich, und er tat mir den Gefallen.

„Maria kommt am Wochenende und wir treffen uns am Samstag mit ihr zum Essen", sagte Sven und ich hielt automatisch den Atem an. Oh nein! Nein! Verdammt nochmal nein! „Vergiss es!", presste ich hervor. Zur Hölle! Das konnte er vergessen.

„Leon! Sie ist meine Schwester! Ich hab sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen, ich finde, ich hab das Recht dazu", fuhr auch er mich wenig sanft an. Irgendwie wurde es zur Zeit zu einem festen Ritual, dass wir uns jeden Abend anbrüllten.

„Du kannst machen, was du willst! Aber lass mich verdammt nochmal da raus!", fauchte ich zurück und ballte die Fäuste. Ich würde nicht zu einem Essen mit meiner Ma gehen. Sie war diejenige, die gegangen war, also konnte sie auch weiterhin bleiben, wo der Pfeffer wuchs.

„Mensch, Leon. Sie vermisst dich. Sie möchte dich endlich wieder sehen!", machte er unbeirrt weiter und ich lachte bitter auf. „Das hätte sie sich vorher überlegen müssen", gab ich zurück. Der richtige Zeitpunkt dafür war vor Jahren und nun war für mich der Zug abgefahren. Ach, was dachte ich da! Richtig wäre es, nie zu gehen!

„Ich werde nicht schon wieder mit dir streiten", seufzte er soeben niedergeschlagen. Na, klar! Jetzt kam die Schiene schon wieder! Leon - die wandelnde Enttäuschung auf zwei Beinen! „Wenn dir auch nur etwas an mir liegt, und du nicht der überhebliche Egoist bist, den du ständig vorgibst zu sein, dann gehst du Samstag mit mir zu diesem Essen." Kurz starrten wir uns in die Augen, bevor er den Blickkontakt beendete und wegsah. Ich musste weg hier. Konnte ihn keine Sekunde ertragen! Wer war hier der überhebliche Arsch? Wer verlangte Sachen von mir, die unmöglich waren?

Also wandte ich mich auf dem Absatz um und lief Richtung Tür. Ich musste wirklich weg hier. Konnte ihn keine Sekunde länger ertragen. Und er hielt mich nicht zurück. Ließ mich einfach gehen. Was fast noch mehr wehtat, wie seine Bitte. Er wusste, dass er alles für mich war, dass ich ihm dankbar war für das, was er in den letzten Jahren für mich getan und vor allem aufgegeben hatte. Und jetzt berief er sich genau darauf? Knallend schloss ich die Tür hinter mir. Lehnte mich kurz dagegen und überlegt, wohin ich an diesem Abend konnte.

Ich musste es loswerden. Diesen Druck. Dieses schlechte Gewissen und ich wollte vergessen. Für einen Augenblick mein Leben und den damit verbundenen Scheiß! Da fiel mir nur ein Platz ein, der mir das alles ermöglichen konnte.

Entschlossen stieß ich mich von der Tür ab und lief los. Nur noch ein klein wenig, dann würde es mir besser gehen. Würde es leichter werden. Ich beschleunigte meine Schritte, lief schneller zur U-Bahn-Station und fuhr hinaus ins Industriegebiet, wo das Heaven auf mich wartete. Viel Alkohol und ein heißer Kerl würden schon dafür sorgen, dass ich vergessen konnte.

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt