Müde zog ich mir das Shirt über den Kopf und warf es in den Wäschekorb. Diese Woche hatte mich echt geschafft. Und sie hatte sich viel länger angefühlt, als sie tatsächlich war. Mir kam es nicht so vor, als wäre Leon erst vor fünf Tagen in mein Leben geplatzt. In unser Leben. Denn auch das ach so geordnete und perfekte Leben meines Bruders geriet dadurch ins Wanken.
Er hatte den heutigen Freitag eigentlich kaum Termine, aber zu Gesicht bekam man ihn dennoch nicht. Als ich heute Morgen mal nachgefragt hatte, wie es ihm ginge, immerhin war das Gespräch gestern nicht wirklich gut verlaufen, wurde ich lediglich angeschnauzt. Danach hatte er keine Zeit mehr. Verschanzte sich in seinem Zimmer und kam nicht mehr hervor.
Auch Leon war heute still und abwesend. Lief mir zwar brav hinterher, war aber mit seinen Gedanken weit weg. Lediglich Dante kam zu ihm durch, sodass die beiden den ganzen Tag zusammenklebten. Ja, ein bisschen war ich tatsächlich eifersüchtig. Immerhin war die Woche herum, und Leon musste ab kommender Woche wieder in die Schule. Das hieß, ich würde ihn nur noch alle paar Tage am Nachmittag sehen, und vor allem auch keine Mittagspausen im Wald. Seufzend beugte ich mich über das Waschbecken und blickte in den Spiegel. Musterte mein Gesicht, das mir verkniffen entgegensah. Eigentlich solle es mir egal sein. Nein, eigentlich sollte ich mich freuen. Endlich wieder in Ruhe arbeiten zu können, ohne ständig auch noch ihn im Blick zu behalten. Aber, wenn ich ehrlich war, fehlte er mir. Jetzt schon.
Ich blinzelte, und mein Spiegelbild blinzelte zurück. Langsam fing ich mir an, Sorgen zu machen. Diese Gedanken bezüglich Leon waren falsch. Er war ein Praktikant und ich verrannte mich in etwas. Ja, so musste es sein. Er war nur ein Praktikant. Nur jemand, der wieder aus meinem Leben verschwinden würde. Und zwar schon sehr bald.
Ein Schnauben hinter mir riss mich aus meiner Betrachtung und Dante ließ sich neben mir nieder, bettete seinen Kopf auf seinen Vorderpfoten, nur um mich von unten anzusehen.
„Ich werde ihn auch vermissen", seufzte ich und kniete mich nieder, um meinem Hund über den Kopf zu streicheln. Erntete dafür ein Jaulen, als würde Dante genau wissen, was ich meinte. „Ich weiß ...", flüsterte ich ihm zu. „Aber er gehört nicht zu uns. Er kreuzt nur kurz unsere Laufbahn, um anschließend seinen eigenen Weg zu gehen", erklärte ich ihm und vielleicht auch ein wenig mir selbst. „Genieß die Zeit mit ihm, aber dann müssen wir ihn loslassen." Erhob mich wieder aus der Hocke und blickte erneut in den Spiegel. Der traurige Ausdruck wollte einfach nicht weichen, selbst, wenn ich meine Mundwinkel künstlich anhob.
„Wir sind vielleicht zwei", seufzte ich erneut und verließ das Badezimmer, um mir Shirt und Boxer für die Nacht zu holen. Dante folgte mir bereitwillig, bis er plötzlich innehielt und auf die Tür zulief. Fragend blickte ich auf und folgte ihm. Noch hatte ich nichts gehört, aber das musste nichts heißen, auf sein Gehör konnte man sich besser verlassen. Und tatsächlich, kurze Zeit später rumpelte es gegen die Tür und dann Stille. Irritiert trat ich noch ein Stück näher, wollte gerade durch den Spion blicken, als die Glocke schrillte und Dante bellte. Er bellte sonst nie. Also beugte ich mich vor und sah durch das Guckloch, doch draußen im Gang brannte kein Licht, sodass ich niemanden erkennen konnte. Ich hatte gar nicht die Gelegenheit mir groß Gedanken zu machen, wer davor stehen könnte, da wurde schon an die Tür gehämmert.
„Phil ...", ertönte mein Name gedämpft und ich riss die Tür auf, da flog mir auch schon ein Körper entgegen. „Leon", hauchte ich überrascht und fing ihn auf.
„Hi ...", nuschelte dieser und rappelte sich ungeschickt auf. Nicht ohne sich dabei an mich zu klammern und mit seiner Nase entlang meines Schlüsselbeins zu streifen. „Wieso ...", nuschelte er dagegen. „Wieso ... riechst du so gut?", wollte er wissen. Schlang mir die Arme um den Hals und atmete nochmal tief ein. „Hmmm ...", seufzte er genießerisch. Das war auch der Zeitpunkt, wo ich tatsächlich realisierte, was gerade geschah, dass es tatsächlich Leon war, der mir am Hals hing und jetzt auch noch anfing Küsschen entlang meiner Schlagader zu platzieren.
„Hi", keuchte ich zeitverzögert und versuchte ihn auf Abstand zu bringen, aber er klammerte sich regelrecht an mir fest. Fing an, sich an mir zu reiben und an meiner Halsbeuge zu sauen. „Leon ...", stöhnte ich auf und merkte, wie mir das Blut durch die Adern schoss. Mir heiß wurde und ein Verlangen auslöste, dass mir die Luft wegblieb. Ganz automatisch zog ich ihn enger an mich und atmete selber tief ein. Sein vertrauter Geruch stieg mir in die Nase und Alkohol. Scheiße, er war betrunken.
Als hätte ich mich verbrannt, löste ich mich von ihm und drückte ihn erneut auf Abstand. Diesmal vehementer. Nur leider ohne viel Erfolg. Sofort klebte er wieder an mir.
„Nein ...", ertönte sein Knurren an meinem Hals und bescherte mir Gänsehaut. „Ich will dich ... Jetzt ...", macht er weiter und seine Hände verließen ihren Platz um meinen Hals und rutschten runter. Er taumelte etwas, weil er das Gleichgewicht verlor, bevor er lachend erneut gegen mich stieß. Seine Finger sich aber dieses Mal an den Knopf meiner Jeans machten und trotz, dass er kaum stehen konnte, hatte er meine Hose binnen Sekunden offen.
„Halt!", stieß ich aus und griff nach seiner Hand. Hielt sie davon ab, noch tiefer in meine Jeans zu gleiten. Unterdrückte ein Keuchen und fluchte innerlich. Wieso musste ich auch vernünftig sein? Wieso konnte ich ihm nicht einfach geben, was er wollte? Was ich wollte! Und da lag das Problem. Es wäre eigennützig. Und wäre er nicht voll bis obenhin, würde er auch nicht über mich herfallen. Logik war ein Arschloch! Und Vernunft seine kleine Schwester.
„Was ist passiert? Wieso bist du betrunken?", fragte ich, während ich seine Hand festhielt, die sich wieder abwärts machen wollte.
„Nein ...", flötete er und rückte erneut näher. Schmiegte sich an mich und platzierte zum wiederholten Mal Küsse entlang meines Halses. „Will ... nicht ... reden ...", hauchte er zwischen den einzelnen Küssen. „Will ... dich ..."
Für einen Moment schloss ich die Augen, genoss seine warmen Lippen, seine heiße Haut und seine feuchte Zunge auf meiner Haut. Genoss seine Hitze und seinen harten Körper, bevor ich ihn widerwillig wegdrückte.
„Leon ... nein!", stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Hör auf!", setzte ich dann härter hinzu, weil er mich und meine Worte völlig zu ignorieren schien. „Hab dich nicht so ...", murmelte er und sah zum ersten Mal hoch und mir direkt in die Augen. Das Blau seiner Pupillen ließ mein Herz stolpern. Da war so viel Wut, so viel Schmerz darin. „Du willst mich doch auch!", erwidert er trotzig und seine Augen sprühen förmlich Funken. Das hier war reine Ablenkung, regelrecht Flucht von seinem emotionalen Aufruhr. Ich wusste es. Verstand es. Und sehnte mich trotzdem. Wollte ihn nicht von mir stoßen? Es wäre so leicht, sich einzureden, dass er voll zurechnungsfähig war. Dass er wusste, was er da tat. Seine Stimme klang fest. Mittlerweile lallte er nicht einmal mehr. „Ich spür' doch, wie hart du bist. Sehe, wie du mich ansiehst", machte er weiter und suchte erneut meine Nähe. Ich rückte ab, trat nach hinten und brachte Abstand zwischen uns. Aber er folgte mir. Ging auf mich zu. Ließ mich innerlich wanken. Doch ich konnte nicht nachgeben. Ich durfte es nicht. Das würde ich mir nie verzeihen.
„Leon. NEIN!"
„Warum ..." Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Zu der Wut gesellte sich Enttäuschung und er verzog traurig sein Gesicht. „Warum ...", seine Schultern fielen herab und seine Lippe begann zu beben. Erneut blieb mir mein Herz stehen. Diesmal auf eine ganz andere Art und Weise. Dumpf. Schmerzvoll. Tränen brachten das eisige Blau seiner Augen zum Schmelzen. „Warum ... will mich denn keiner ...", hauchte er, ließ den Kopf hängen und ein Zittern ging durch seinen Körper. Das dunkle Haar fiel im ins Gesicht und verdeckte alles, wie ein eiserner Vorhang, der ihn schützen sollte. Ich biss mir auf die Lippe, schloss die Augen und seufzte. Nur um sie wieder zu öffnen, den Abstand zwischen uns zu überwinden und ihn in meine Arme zu schließen. Ein Schluchzen drang an mein Ohr und ich presste ihn nur noch fester an mich.
„Keiner ...", wimmerte er gegen mein Ohr. „Einfach keiner ..."
Es zerriss mir das Herz und ich streichelte immer wieder seinen Rücken. Versuchte ihm so zu zeigen, dass es nicht wahr war, dass er mit wichtig war.
„Was ist passiert?", flüsterte ich also in sein Haar. „Wieso hast du dich betrunken?"
Langsam, fast schon vorsichtig umschlangen seine Arme meine Taille, als würde er jeden Augenblick mit Zurückweisung rechnen. Doch ich hielt still. Ließ ihn gewähren. Solange er nur Nähe suchte, war es ok. Die konnte ich ihm geben. Oder besser, die durfte ich ihm geben.
„Meine Ma ...", seufzte er nach einer Weile schwer und mein Gehirn überschlug sich. Hatte Sven nicht irgendwas von Samstag gesagt? Heute war doch erst Freitag.
„Ich dachte das Treffen wäre erst Morgen?", fragte ich also nach und Leon schien gegen meine Brust zu nicken.
„Ich hab ihr geschrieben und dann war ich im Hotel", fing er an zu erzählen und ich kniff die Augen zusammen. Das konnte doch gar nicht gut gehen. Ich konnte mir regelrecht den aufgebrachten Leon im Hotel bei seiner Mutter vorstellen.
„Und dann?", flüstre ich leise und ermutigte ihn somit zum Weiterreden. „Bin ich ausgeflippt", stieß er aus und ich spürte seinen heißen, stockenden Atem gegen meine Haut. Und dann sagte er rein gar nichts. Ich fühlte lediglich die nassen Tränen. Ließ ihn. Drängte ihn nicht, in der Hoffnung, er würde mir später mehr erzählen, wenn er sich etwas beruhigt hatte.
So standen wir eine gefühlte Ewigkeit da. Bis sein Atem sich beruhig und die Anspannung etwas aus seinem Körper gewichen war.
„Duschen?", fragte ich.
„Ich denke mal nicht zusammen?", erwiderte er und klang immer noch unendlich traurig. Wartete aber keine Antwort ab, sondern ließ mich los und trat an mir vorbei. „Du weißt ja, wo alles ist", rief ich ihm hinterher und Dante folgte ihm. Gut. Dann war er wenigstens nicht allein.
Emotional fix und fertig lehnte ich mich gegen die kalte Wand. Spürte die Kälte und versucht mich etwas zu beruhigen. Atmete tief durch, bevor ich mein Handy aus der Hosentasche holte und widerwillig die Nummer meines Bruders wählte. Der würde sich sicherlich freuen. Und ich behielt recht.
„Phil?", ertönte mein Name fragend in der Leitung. Fragend und skeptisch. Als würde er meinem Anruf nicht ganz trauen.
„Hey Marek", fing ich vorsichtig an. „Du Leon ist hier aufgetaucht. Völlig aufgelöst und betrunken. Er scheint wohl Streit mit seiner Mutter gehabt zu haben." Machte ich es kurz und schmerzlos. Hielt die Luft an und warte ab. Kurz wurde es totenstill in der Leitung und ich wollte gerade fragen, ob er überhaupt noch dran sei, doch da ertönte seine Stimme.
„Fuck ...", fluchte er und ich traute meinen Ohren kaum. Mein Bruder fluchte nie. Zumindest in meiner Gegenwart. „Du und dieser Leon bringt mich noch um!", setzte er wütend hinzu und legte einfach auf.
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Unter Verrückten
RomanceJetzt hatte ich schon wieder alles verbockt! Mal wieder, aber dieses Mal so richtig! Ein Wunder, dass mir Sven dafür nicht den Kopf abgerissen hatte ... stattdessen drückte er mir diese bescheuerte Visitenkarte auf. "Privatklinik Schloss bei den Buc...