3. Leon - Begegnungen

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Kurz vor zwei stand ich nun vor einem riesigen, verschlossenen Tor. Schloss die Augen, atmete noch einmal tief durch, bevor ich meine Schultern straffte und auf die Klingel drückte. Mein Galgen wartete, und es aufzuschieben brachte rein gar nichts. Ich musste da jetzt durch, ob ich wollte oder nicht.

Das ganze Wochenende über war ich Sven aus dem Weg gegangen und hatte ihn weitestgehend ignoriert. Was sich gar nicht als schwierig herausgestellt hatte, denn auch er schien meine Anwesenheit zu meiden. Das Gespräch mit dem Direktor und auch das Praktikum erwähnten wir beide mit keinem Wort. Nichtsdestotrotz wusste ich, dass ich gehen musste. Auch wenn mir diese Chance an sich egal war, Sven hingegen war es nicht. Ich wollte weder ausziehen noch streit mit ihm haben und doch wurde Letzteres zur Tagesordnung. Mir war durchaus klar, dass es meine Schuld war. Immer schon. Und doch konnte ich nicht aus meiner Haut. Er verlangte, oder noch schlimmer, er erwartete Sachen von mir, zu denen ich aktuell einfach nicht imstande war. Es war frustrierend, ihn immer wieder aufs Neue zu enttäuschen. Nur konnte ich ihm im Moment einfach nicht geben, was er sich wünschte. Was er sich für mich wünschte. Ich hatte schlicht nicht die Kraft dazu.

Die Gegensprechanlage ertönte und ich wurde nach meinem Namen gefragt. Kaum, dass ich ihn genannt hatte, glitt das Tor wie von Zauberhand auf und ich trat ein. Ein breit gepflasterter Weg schlängelte sich durch eine Grünanlage, die mit vielen Sträuchern und Blumen bepflanzt war, was mich aber im Augenblick nicht wirklich interessierte.

Nervös trat ich durch das Tor und folgte dem Weg, bis ich vor einem Haus ankam, das aussah, wie ein kleines Herren Haus. Gleichzeitig hatte man das Gefühl in die Vergangenheit versetzt zu werden. Es sah in der Tat sehr einladend aus, und nach einem Ort, wo noch die Welt in Ordnung sein könnte, wäre da nicht die Tatsache, dass es sich hierbei um eine Klapse handelte. Da war die Welt wohl für die wenigstens in Ordnung.

Was zur Hölle sollte ich dann hier? Ich konnte im Augenblick kaum mich selbst ertragen, geschweige denn andere Menschen. Durchgeknallte Menschen. Das konnte doch nur in einer Katastrophe ausarten und dann wäre ich wieder schuld. Schuld, dass es nicht geklappt hatte. Schuld, dass ich Sven erneut enttäuscht hatte. Schuld - einfach an allem.

Drei breite Marmorstufen führten zu einer großen Flügeltür. Also stieg ich sie hinauf und wollte gerade nach dem Türgriff greifen, als diese aufgerissen wurde.

„Du kannst mich mal!", schrie ein Mädchen über die Schulter, als sie sich umdrehte, und keinen Augenblick später in mich knallte. „Oh ...", machte sie und trat eilig einen Schritt zur Seite. Irritiert blinzelte sie ein paar mal, bevor Gewitterwolken durch ihr Gesicht zogen und sie Mund und Augen wütend verzog. „Was stehst du auch so blöd in der Tür herum?!", wollte sie von mir wissen und stemmte ihre Hände in die Hüften. Ihr Augen fuhren unablässig auf und ab, während sie mich kritisch musterte. „Ach, stumm bist du auch noch?", fragte sie erneut und zog ihre Augenbrauen missbilligend in die Höhe.
„Emm ... sorry!", stammelte ich, weil ich mit ihrer Erscheinung total überfordert war, und mir wieder in den Sinn kam, wo wir uns befanden. Vielleicht war sie eine Psychopathin und würde mir jeden Augenblick an die Gurgel gehen? Also trat nun ich einen Schritt zurück und musterte sie ebenfalls, nur nicht so auffällig wie sie mich, so hoffte ich zumindest.

Ihr feuerrotes Haar hatte sie zu einem wilden Knoten hochgesteckt und unzählige Haarsträhnen hingen ihr wild auf die Schultern. Die Augen, die zwischen ihrem langen Pony wütend hindurch blitzen, hatte sie schwarz umrandet und dunkel angemalt. Ein missbilligender Zug umspielte ihre weinroten Lippen, die in der Mitte von einem silbernen Ring geteilt wurden. Ansonsten steckte sie wie ich, in dunkeln Jeans, einem engen schwarzen Bandshirt und Chucks. Wäre ich ihn nicht hier, sondern auf einem Festival begegnet, hätte ich sie wohl sympathisch gefunden.

„Hör auf zu starren, das ist unhöflich!", pflaumte sie mich erneut an. Da ertönten Schritte im Inneren und sie verdrehte die Augen. „Typisch! Immer das gleich!", zischte sie und schüttelte den Kopf, dass ihre Strähnen nur so flogen. „Jetzt kommt Phil, um hinter ihnen aufzuräumen!" Ich hatte keine Ahnung, was sie mir damit sagen wollte, und war mir auch nicht sicher, ob sie tatsächlich mit mir sprach, und nicht doch mit sich selbst.

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt