16. Phil - Aufeinandertreffen

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Ich sah Leon an, dass er nicht bereit war mein Angebot anzunehmen und doch hoffte ich darauf. Allein diese Tatsache machte mir ein schlechtes Gewissen. Die Nacht war schön mit ihm. Es hatte sich gut angefühlt, jemanden bei sich zu haben. Mit ihm einzuschlafen, am morgen neben jemanden aufzuwachen. Hatte mir aufgezeigt, dass mir doch etwas im Leben fehlte. Auch, wenn ich diese Tatsache bis jetzt immer von mir schieben konnte. Allein zu sein, hatte nicht nur Vorteile.

„Ich muss dann mal los", verabschiedete ich mich letzten Endes widerwillig von Leon. Wollte aber beim ersten Aufeinandertreffen zwischen Marek und Sven unbedingt als Puffer dazwischen gehen können. Denn, wenn Sven nur halb so empfindlich auf die Geschichte von damals reagierte wie mein Bruder, würde es kein leichtes Gespräch werden. Für beide nicht.

Leon erhob sich schwer. Knuddelte noch einmal Dante und verließ mit einer erhobenen Hand zum Gruß etwas widerstrebend das Zimmer. Ob es nur an Dante lag, dass es ihm schwerfiel zu gehen? Das war ein gefährlicher Gedanke, also schob ich ihn schnell beiseite und machte mich auf den Weg zum Empfang, um zu sehen, ob unser Gast bereits eingetroffen war und wo mein Bruder steckte. Und tatsächlich, an der Pforte stand ein hochgewachsener, blonder Mann, der sich lächelnd mit Martina unterhielt.

Langsam trat ich auf ihn zu, ließ meinen Blick über ihn wandern und musste zugeben, dass ich verstand, dass mein Bruder bei diesem Mann in Versuchung geraten war. Dieser Sven sah in der Tat sehr gut aus. Schien wohl in der Familie zu liegen. Zwar gefiel mir Leon mit seinem längeren dunklen Haar besser, aber auch sein Onkel hatte was an sich.

Als ich merkte, was ich da dachte, schüttelte ich den Gedanken ab und trat auf den Mann vor mir zu.

„Hallo. Sie müssen Leons Onkel sein", begrüßte ich ihn und er fuhr etwas erschrocken herum. Das Lächeln, das noch zuvor auf seinen Lippen geklebt hatte, versteifte sich, während er den Blick über mich wandern ließ. Ich war wohl nicht der, mit dem er gerechnet hatte.

„Ich bin, Phil und Leon begleitet mich zurzeit bei meiner Arbeit", erläuterte ich weiter und ignorierte einfach sein Missfallen, während ich ihm die Hand ausstreckte. „Sven", stellte er sich vor und nahm meine dargereichte Hand, um sie kurz zu schütteln. „Kommen Sie mit, Marek müsste jeden Augenblick mit seiner letzten Sitzung fertig sein", ließ ich wie beiläufig in das Gespräch mit einfließen, damit der Mann vor mir, der immer noch grimmig dreinblickte, wusste, dass mein Bruder nicht vorhatte, sich zu drücken.

„Leon hatte bei ihnen die Nacht verbracht?", überging er jegliches Small Talk und kam gleich zum Wesentlichen.

„Ja, er war bei mir", bestätigte ich, deutete Richtung Büros und wir liefen gemeinsam los, während Dante hinter uns hertrottete. Scheinbar fand er nicht, dass sich die beiden allzu sehr ähnelten. Immerhin zeigte er an Sven, im Gegensatz zu Leon, kein Interesse.

„Danke, dass Sie auf ihn aufgepasst haben", sagte er nach einer Weile, schien aber mit den Gedanken nicht wirklich bei mir zu sein.

„Das war selbstverständlich", erwiderte ich, aber das schien Sven gar nicht zu hören. Mit jedem Schritt, den wir gingen, schien der Mann neben mir nervöser zu werden. Als wäre er auf dem Weg zu seinem Henker, statt zu meinem Bruder. Und langsam machte ich mir echt Gedanken, ob es klug wäre, dabei zu sein. Vielleicht wäre dieses erste Treffen für beide, ohne Zeugen, besser verlaufen. Aber jetzt waren es zu spät und wir standen vor dem Büro meines Bruders.

„Hier ist es", sagte ich unnötigerweise, den Svens Augen hingen längst an dem Schild mit Mareks Namen an der Tür.

Er war blass geworden, die letzten Minuten. Straffte nun aber die Schultern und atmete tief ein, bevor er die Hand erhob und an die Tür klopfte. Keine Sekunde später wurde diese aufgerissen. Fast so, als stand Marek schon die ganze Zeit dahinter und hätte auf unser Eintreffen gewartet. Aber bestimmt hatte Martina ihm den kommenden Besuch angekündigt.

Der Blick der beiden Männer traf aufeinander und für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Niemand rührte sich. Niemand sagte auch nur ein Wort. Sie sahen sich lediglich an. Für Sekunden, bevor mein Bruder den Blickkontakt abbracht, zur Seite trat und uns hereinbat. Er deute auf die Plätze vor seinem Schreibtisch, bevor er dahinter verschwand und selbst Platz nahm.

Wortlos setzten wir uns und ich fühlte mich ziemlich fehl am Platz. Bei diesem Treffen ging es nicht um Leon. Oder nicht mehr. Und ich hatte hier definitiv nichts verloren. Aber versprochen, war versprochen, also musste ich wohl oder übel bleiben. Vielleicht würde es besser werden, wenn sie endlich anfingen miteinander zu reden. Statt, dass Sven Marek unverhohlen anstarrte und mein Bruder überall sonst hinschaute, wie auf den Mann vor ihm. Ja, doch langsam fühlte ich mich echt unbehaglich in meiner Haut und das, obwohl mich die beiden völlig vergessen hatten. Kurz überlegte ich noch, selbst das Gespräch zu beginnen, da räusperte sich mein Bruder, straffte die Schultern und blickte erneut auf. Zu mir, nicht zu Sven. Am liebsten hätte ich genervt mit den Augen gerollt. Stattdessen versuchte ich, unauffällig, mit einem schnellen Seitenblick zur Seite, auf meinem Nebenmann zu zeigen. Den sollte er anschauen, nicht mich!

„Wie ich sehe, hast du Phil bereits kennengelernt. Er ist mein Bruder und Leon begleitet ihn bei der Arbeit", erklärte mein Bruder. Etwas schien die Situation zu verändern, den Sven lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. Alles an seiner Haltung schrie nach Ablehnung.

„Ich weiß", gab er kühl zurück und mein Bruder wirkte überrascht. „Ich hab ihn wieder erkannt. Du hattest Fotos von euch beiden in deiner Wohnung. Außerdem, er sieht dir ähnlich."

Mein Bruder öffnete den Mund, wusste aber wohl nicht so recht, was er sagen sollte. Ich, der zwar Inhalt dieses schwer laufenden Gesprächs Thema war, wurde weiterhin völlig ausgeblendet.

„Natürlich", sagte mein Bruder nach einer Weile. „Das hatte ich ..." „... vergessen", fuhr ihm Sven ins Wort und Marek zuckte zusammen. Senkte den Blick und kniff die Lippen aufeinander. Das war der Augenblick, wo ich nicht mehr nur zusehen konnte.

„Worüber genau wollten Sie den sprechen?", wandte ich mich an Sven und er brauchte einen Augenblick, bevor er seinen Blick von Marek löste und zu mir sah. „Über Leons Praktikum an sich, oder über den Vorfall heute Nacht", brachte ich Leon ins Spiel und hoffte, dass die beiden sich nun auf etwas anderes konzentrieren würden, als auf sich selbst. Sonst würde ich echt aufstehen und gehen müssen. Irgendwas sagte mir, Marek würde mir nie verzeihen, ihn so verletzlich und ins hinterste Eck gedrängt, zu sehen.

„Beides", eröffnete Sven und sah wieder weg von mir, um Marek anzusehen. Ja, irgendwie ging mein Plan nicht auf.

„Ich weiß nicht, was gestern zwischen Ihnen und Leon passiert ist, er hat nichts erzählt. Nur, dass er nicht zu ihnen wollte", gab ich nicht auf und kämpfte regelrecht um Aufmerksamkeit.

„Das zwischen mir und Leon läuft in letzter Zeit nicht sehr gut", fing er doch an zu erzählen, den Blick weiterhin auf Marek gerichtet. „Wir streiten, wenn wir uns gerade nicht anschweigen. Jede Kleinigkeit bringt ihn zum Explodieren."

„Und was war es gestern Abend?", fragte ich nach, auch wenn niemand mit mir sprach.

„Leons Mutter ist für einige Vorträge nach Deutschland gekommen und möchte sich mit Leon treffen. Sie ist Professorin und das erste Mal wieder im Land, seit dem sie Leon bei mir gelassen hat", erklärte Sven und sah tatsächlich einmal zu mir hinüber. Nur kurz, aber immerhin. „Leon möchte sie nicht treffen", schlussfolgerte ich und verstand auf einmal so vieles mehr. „Ja. Er hat sich in den Kopf gesetzt, sie hätten ihn verlassen. Also beide. Leons Vater und Maria. Wobei das nicht ganz der Wahrheit entspricht. Beide wollten Leon mit sich nehmen, nur er wollte nicht mit. Gab und gibt sich immer noch die Schuld für ihre Streitereien."

„Es war gut, dass du ihm dann die Sicherheit gegeben hast, bei dir bleiben zu dürfen. Auch, dass er seinen Frust an dir auslässt, zeigt, dass ihr ein sehr inniges Verhältnis zueinander habt und er sich deiner Zuneigung sicher sein kann. Selbst, wenn er schreit und verbal um sich schlägt", schien mein Bruder endlich wieder seine Sprache gefunden zuhaben. Sofort galt ihm die ganze Aufmerksamkeit.

„Darum geht er lieber bei einem wildfremden Kerl mit, statt nach Hause zu kommen?", warf Sven wütend ein und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich fürchte langsam, ihn zu dir zu schicken, war keine gute Idee. Ich dachte, du kümmerst dich um ihn und stellst nicht einfach jemanden auf ihn ab. Aber da hab ich mich wohl in dir getäuscht. Wieder einmal ...", redetet der Mann sich neben mir in Rage und sprühte Funken.

Ganz eindeutig heilte Zeit nicht alle Wunden. Eigentlich hätte ich gekränkt sein müssen, aber ich wusste, dass diese Wut nicht mir, sondern meinem Bruder galt. Ein bisschen erinnerte mich Sven an Leon, der seinen Eltern nicht verzieh, verlassen worden zu sein. Nur, dass Sven Marek nicht verzieh, dass dieser ihn wohl verlassen und enttäuscht hatte. Aber das sollte ich wohl nicht zur Sprache bringen.

„Sven ...", fing mein Bruder an und brach ab. Wusste wohl nicht, was er sagen sollte. Er könnte es mit einer Entschuldigung versuchen, auch wenn sie wohl nicht viel geradebiegen würde, so war sie dennoch überfällig und angebracht. Aber stattdessen schwieg er. Die Lippen fest aneinandergepresst.

„Ich glaube, Leon denkt, dass er Sie enttäuscht. Außerdem wollte er nicht zu mir, ich hatte ihm keine Wahl gelassen, weil er sonst tatsächlich mit einem fremden Kerl aus dem Heaven gezogen wäre."

„Du hast ihn ihm Heaven aufgegabelt?", fuhr er mich an und ich hatte auf einmal seine volle Aufmerksamkeit.

„Ja", gab ich zurück und zuckte mit den Schultern. Es war keine Schande, immerhin war es ein wirklich toller Klub. Und Idioten gab es überall.

„Dann bist du schwul?", die Frage war rhetorisch, das war mir klar, trotzdem nickte ich. Schließlich war es weder ein Geheimnis, noch machte ich eines draus.

„Das muss ja wirklich schlimm für dich gewesen sein", wandte er an meinen Bruder, der nun rot anlief.

„Mensch Sven! Ich hatte doch nie Probleme damit, dass du schwul bist!", stieß Marek hervor und ballte die Fäuste. Rang sichtlich um Fassung und ich war mir nicht sicher, ob er diesen Kampf gewinnen würde.

„Ach, stimmt ja ...", gab dieser kalt zurück. „Du hattest erst eins damit, als du gemerkt hast, dass du es auch bist." Er hob sich, verließ fluchtartig den Raum und schlug die Tür hinter sich zu.

In der soeben eingekehrten Stille, die schwer zwischen uns hing, blieben wir zurück. Das war nicht gut. Am liebsten wär ich ihm nachgelaufen. Also nicht direkt ihm, aber einfach weg von hier. Die Stimmung, die ja seit Anfang des Gespräches nahe dem Gefrierpunkt herumgeeiert hatte, war inzwischen endgültig am Tiefpunkt angelangt. Marek saß da, wie ein Häufchen Elend. Seine Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und das Gesicht in den Händen gebettet. Die Last der ganzen Welt schien auf seinen Schultern zu ruhen. Ihn zu erdrücken.

„Danke, dass du hier warst. Kannst du mich jetzt bitte allein lassen ...", durchbrach er mit rauer Stimme die Stille.

„Marek ...", hauchte ich und wusste selbst nicht, was ich sagen sollte.

„Bitte, Phil!", bat er und klang fix und fertig. Widerwillig erhob ich mich. Ging zur Tür und öffnete sie. Blieb einen Augenblick stehen. Hoffte, er würde noch etwas sagen, aber er tat es nicht. Saß einfach weiterhin so da und es tat mir fast schon körperlich weh, ihn so zu sehen.

„Wenn du mich brauchst, ich bin immer für dich da", flüsterte ich, wartete erneut, bevor ich die Tür hinter mir schloss. Dann ging ich mit Dante davon, der mir wie immer auf den Fersen folgte. Na ja, fast immer. Ein Lächeln schob sich über meine Lippen und ein warmes Gefühl flutete meinen Bauch. Was war denn das schon wieder? Kopfschüttelnd lief ich schneller. Ich sollte eindeutig aufhören, an ihn zu denken. Das war gefährlich.

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt