20. Phil - Sven & Marek

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„Leon!", schrie ich ihm nach. Doch da verschwand er auch schon in der Dunkelheit. Ich würde ihn umbringen. Sollte er lebend aus der Sache rauskommen, und nicht in seiner Wut betrunken irgendwo dagegen rasen, würde ich ihn eigenhändig umbringen.

„Sven, jetzt beruhig dich doch erstmal", erklang irgendwo hinter mir Mareks Stimme.

„Sag mir nicht, was ich zu tun habe! Ich hasse dich! Weißt du das! Ich verfluche dich! Ich will dich nie wieder sehen!", ertönte es hinter mir und ich wirbelte herum. Wut paarte sich mit dieser lähmenden Angst in meinem Inneren.

„Ihr zwei Idioten haltet endlich eure Klappe!", schrie ich beide bebend an und versuchte, das Zittern meiner Hände, in den Griff zu bekommen. „Hier geht es verdammt nochmal nicht um euch! Leon ist betrunken und extrem wütend in einem Scheiß Auto unterwegs und wenn ihm irgendetwas passiert, bring' ich euch beide um! Und jetzt gib mir dein Handy!", fuhr ich Sven an und streckte ihm meine Hand entgegen. Dieser wollte gerade seinen Mund öffnen, doch ich ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen. „Wird's bald!", befahl ich und musterte ihn so böse, dass er wortlos in seine Tasche griff und sein Handy zückte. Er entriegele es, suchte eine Nummer raus und reichte es mir. Augenblicklich drückte ich den grünen Hörer, wandte mich ab von den beiden und fing an auf dem Gehsteig hin und herzulaufen. Es läutete und läutete und läutete, bis schließlich die Mailbox ansprang.

„Leon, hier ist Phil. Bitte halte an und ruf mich zurück. Bitte! Es wird alles gut! Versprochen. Nur halte an und fahr nicht weiter. Bitte." Doch bevor ich noch etwas sagen konnte, ertönte der Ton, der die Aufnahme beendete. Erneut wählte ich die Nummer.

„Geh ran!", flehte ich und tigerte weiterhin nervös auf dem Gehsteig hin und her. „Geh verdammt noch mal ran!", bettelte ich mit flehender Stimme. Während mein Herz immer schwerer wurde. Was, wenn er einen Unfall baute? Was, wenn er starb? Wie angewurzelt blieb ich stehen und hatte wieder Bilder im Kopf, aus längst vergangen Tagen. Jannik ... Was, wenn sich die Geschichte wiederholte und ich wieder jemanden, der mir wichtig war, verlor?

„Hey ...", eine schwere Hand berührte meine Schulter und mein Bruder trat in mein Blickfeld. Was, wenn ich wieder versagt hatte? Wenn ich wieder jemanden nicht halten konnte? „... er hatte einen Unfall ...", hörte ich die Worte in meiner Erinnerung, als wäre es erst gestern gewesen. „Er hat es nicht überlebt", machte diese irre Stimme in meinem Kopf weiter und quälte mich immer wieder aufs Neue.

„Ihm wird nichts passieren! Er ist nicht Jannik!", redete Marek weiter auf mich ein. „Komm, schau mich an", bat er sanft und als ich nicht reagiert, griff er an mein Kinn und drückte es hoch, dass ich ihn ansehen musste. „Leon ist wütend, er ist traurig, er ist impulsiv und er verfällt auch hin und wieder in eine depressive Stimmung, aber er ist nicht selbstmordgefährdet! Außerdem wirkte er auf mich nicht mehr so alkoholisiert, dass er das Auto nicht unter Kontrolle hätte. Bestimmt beruhigt er sich und kommt gleich zurück. Versuch ihn mal von deinem Handy aus anzurufen. Vielleicht geht er nicht ran, weil er meint, Sven ruft ihn an", schlug er vor und lächelte mir aufmunternd zu. „Probier es", setzte er leise hinzu und ich klopfte meine Hosentaschen nach meinem Mobiltelefon ab. Er hatte recht. Sven war wohl jetzt der letzte Mensch, mit dem Leon reden wollte. Wieso war ich da nicht selbst draufgekommen? Also fischte ich mein Handy aus der Hosentasche, nachdem ich es gefunden hatte, und tippte mit zittrigen Fingern die Nummer ein. Wieder läutete es. Marek ließ mich los, klopft mir aufmunternd auf die Schulter und trat weg. Ich folgte ihm mit den Augen, sah, wie er auf Sven zu ging, der auf dem Bordstein saß und nun das Gesicht verzweifelt in den Händen hielt. Seine Wut schien verraucht zu sein. Er wirkte fix und fertig und am Boden zerstört.

Vor ihm ging mein Bruder in die Hocke und berührte vorsichtig seine Hand. Augenblicklich zuckte Sven unter dieser Berührung, sodass Marek seine Hand wegzog.

„Es ist alles meine Schuld", flüsterte er und ich war gewillt, ihm recht zu geben. Ich war so wütend auf ihn. Er wusste doch, wie Leon reagierte, wenn man von seiner Mutter anfing. Ihm dann an den Kopf zu werfen, man würde ihn zu ihr zurückschicken, war nicht gerade die beste Idee. Und das vor allem nicht mal Leons wegen, sondern seinetwegen.

„Das ist nicht wahr!", versicherte mein Bruder, und beugte sich Sven noch etwas entgegen. „Doch ...", dieser sah plötzlich auf und direkt in Mareks Gesicht. Ihre Blicke verschmolzen regelrecht miteinander. „Wenn ihm etwas passiert, dann ist es meine Schuld!" Kurz schien mein Bruder mit sich zu hadern, doch dann griff er nach Sven und zog ihn in seine Umarmung. Augenrollend wandte ich mich ab und die Mailbox ertönte. Mal wieder.

„Immer noch Phil!", murmelte ich. „Leon, ich mach' mir solche Sorgen! Bitte, melde dich! Du musst nicht zu deiner Mutter. Sven tut es auch furchtbar leid! Bitte komm zurück ..." Und wieder wurde ich von Signalton übertönt, nur um gleich darauf erneut zu wählen. Und, wenn ich tausendmal anrufen müsste. Selbst, wenn es völlig sinnlos wäre! Irgendwas musste ich doch tun!

„Wo bist du?", frage ich ins Handy, sobald erneut die Mailbox ansprang. „Komm zurück! Bitte! Komm zu mir zurück!" Doch statt irgendeiner Reaktion ertönte lediglich ein Ton, der signalisierte, dass mein Akku leer war. Nicht das auch noch! Schnaubend steckte ich das Handy weg. Ging auf Sven zu, der immer noch in Mareks Armen lag. Mein Bruder kniete auf der Straße, den Mann vor ihm fest an sich gepresst, das Gesicht verzehrt, als würde Svens Leid, ihm selbst körperliche Schmerzen bereiten. Und wenn es gerade nicht um Leon ging, hätte ich mich vielleicht gefreut. Immerhin könnte das der Auftakt in eine richtige Richtung sein. Könnte, wenn es beide zuließen. Aber ich hatte andere Sorgen.

„Hier!", riss ich die beiden aus ihrem innigen Moment. „Dein Handy. Ich muss hoch, ich brauche mein Aufladegerät."

Augenblicklich fuhren beide auseinander und sahen sich entsetzt an, als hätte ich sie aus einem schönen Traum in die Realität gerissen. Und so war es wohl auch. Aber da konnte ich wirklich keine Rücksicht drauf nehmen. Für mich ging es hier um Leon! Ihn wollte ich nicht verlieren. Und hatte ich mich vorhin gefragt, ob da wirklich mehr zwischen uns war, konnte ich es jetzt bestätigen.

Dieser Schmerz, dieser kalte Griff um mein Herz. Meine Kehle, die mich nicht richtig atmen ließ, zeigte, dass er mehr für mich war als ein Praktikant. Mehr als ein Freund. Einfach nur mehr. Und ich hoffte verzweifelt, dass wir die Chance bekamen dieses 'mehr' herauszufinden.

Sven blinzelte ein paar Mal und griff nach dem dargereichten Handy. Als wäre es sein Stichwort, löste sich Marek von ihm und erhob sich.

„Dürfen wir mit hochkommen, um auf Leon zu warten?", fragte mein Bruder mich. Kurz überlegte ich, nein zu sagen, doch dann nickte ich bloß. Sie machten sich auch Sorgen. Außerdem sah Sven immer noch elend drein, sodass es nicht mir zustand, ihn für sein Verhalten zu bestrafen. Und im Falle, dass Leon doch wieder zurückkämme, wäre es vielleicht besser, wenn die beiden diese Geschichte gleich mal aus der Welt schafften.

Gott, ich hoffte so sehr, dass er jeden Augenblick wieder auftauchte, dass Scheinwerfer um die Ecke bogen und alles in ihrem Licht erhellten. Die Straße, mein Innerstes. Denn dort herrschte immer noch Schwärze und Angst. Zu real, da ich diesen Schmerz schon einmal durchlebt hatte. Man lebte damit, man verdrängte ihn, aber er war immer noch da. Man vermaß nie!

Marek streckte Sven die Hand entgegen. Dieser griff danach und ließ sich hochhelfen. Dann gingen wir zusammen wieder rauf in meine Wohnung, wo mich Dante völlig aufgelöst ansprang.

„Ist ja gut!", flüsterte ich und ging in die Hocke, um ihn an mich drücken zu können. „Alles ist gut!", log ich, bevor er sich von mir löste und hinter mich lief. Ganz eindeutig auf der Suche nach Leon. „Dante!", rief ich ihm noch nach, da er gerade durch die Tür nach draußen laufen wollte, doch er ließ sich nicht aufhalten. Erschrocken erhob ich mich und stürzte ihm nach. Das würde mir gerade noch fehlen, wenn wir ihn auch noch suchen müssten. Außerdem würde mich Leon umbringen, sollte Dante irgendwas zustoßen.

Doch ich kam nicht weit. Draußen im Gang hatte Marek meinen Hund am Halsband gepackt und führte ihn gerade Richtung Haustür. Erleichterung durchflutete meinen Körper und ich seufzte. Ein Problem weniger.

„Mensch, Dante!", rügte ich ihn und trat auf Marek zu, um ihm Dante abzunehmen. „Ich will auch zu Leon, aber du kannst doch nicht einfach abhauen!", schimpfte ich weiter vor mich hin, um wenigstens irgendetwas zu tun zu haben. Als auch Sven die Wohnung betrat und die Tür verschloss, ließ ich meinen Hund los, der augenblicklich wieder zur Tür lief und sich davor hinsetzte, als würde er ab jetzt, solange davor kampieren, bis Leon wieder zurückkam. Der arme Dante. Meine Gefühle für Leon kamen schleichend, für ihn war es von Anfang an Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Traurig wandte ich meinen Blick ab und ging ins Schlafzimmer, um endlich das Aufladekabel zu holen und Leon erneut anzurufen. Vielleicht würde er ja diesmal endlich rangehen. Oder er würde zurückrufen. Was, wenn er bereits versucht hatte mich zu erreichen? Bei dem Gedanken beschleunigte ich meine Schritte. Riss mein Kabel aus der Steckdose und nahm es mit ins Wohnzimmer, wo bereits die beiden anderen auf mich warteten. Schnell war es angeschlossen, kaum, dass das Handy wieder anging, drückte ich auf die Wahlwiederholung und lauschte dem Freizeichen. Unendlich viele Sekunden lang geschah gar nichts. Doch dann ertönte eine leise Melodie. Ich blinzelte, mein Hirn überschlug sich und ich wollte einfach diesen Gedanken nicht zu lassen, der sich in meinem Kopf materialisierte.

„Das ist Leons Handy!", ließ Sven genauso geschockt meinen kläglichen Versuch zerplatzen.

Ich setzte mich in Bewegung und ging dem Geräusch entgegen. Kurt Cobains Stimme, die krächzend „In the pines, in the pines, where the sun don't ever shine. I would shiver the whole night through.", sang und mir eine Gänsehaut bescherte und dann verklang. Erneut wählte ich seine Nummer. Ging weiter auf die Badtür zu, nur um das Lied erneut zu hören. „My girl, my girl, where will you go. I'm going where the cold wind blows", erklang es wieder und ich trat ins Bad. Sah mich um und entdeckte die Lederjacke und seine Schuhe vor der Dusche. Ging in die Hocke und holte das Handy aus der Tasche. Lauschte noch einmal Cobains Stimme, bevor ich auflegte und meine Augen schloss.

Alle Hoffnung schien meinen Körper verlassen zu wollen. Wie konnte er mir das antun? Wieso nur musste er fahren? Er hätte doch einfach bei mir bleiben können.

Als ein Geräusch hinter mir erklang, zuckte ich zusammen und erhob mich wieder aus meiner Haltung. Nahm Jacke und Handy mit und drehte mich um, um Svens Blick zu begegnen. Verzweifelt blickte er mir entgegen und kaute auf seiner Lippe. Dieser Anblick versetzte mir einen Stich. So unterschiedlich sie auch waren, so hatten sie doch auch einiges gemeinsam.

„Komm, wir gehen zurück zu Marek", schlug ich vor und deutete auf die Tür. Als er sich nicht in Bewegung setzte, ging ich los und an ihm vorbei.

„Es tut mir leid ...", flüsterte er, ließ den Kopf hängen, kaum, dass ich auf seiner Höhe war und ich blieb stehen. „Ich war so wütend", sprach er weiter. „Auf Marek!", gab ich härter zurück, wie beabsichtigt, aber ich konnte einfach nicht aus meiner Haut und es war mir nicht möglich, ihn mit Samthandschuhen anzufassen, während Leon irgendwo da draußen war. Gott weiß, wie es ihm dabei ging!

„Ja ...", gab er nach einer Weile zu. „Euch so zu sehen ...", er brach ab, räusperte sich. „Ich wollte nicht, dass er verletzt wird."

„So wie Marek dich verletzt hatte", erwiderte ich und musste wirklich an mich halten, um nicht laut zu werden. Das würde niemanden was bringen. Weder mir noch ihm.

„Ja ...", hauchte er erneut gepresst. Und irgendwas zog sich in mir zusammen. Ein bisschen konnte ich ihn ja verstehen. Also atmete ich tief durch und versuchte den Gedanken, dass Leon etwas passieren konnte, beiseitezuschieben. Klappte nicht sonderlich, aber immerhin konnte ich mich kurz auf Sven konzentrieren.

„Wir haben uns geküsst. Mehr ist nicht zwischen uns passiert. Und ich hatte nicht vor, ihn zu verletzten. Ich bin auch nicht mein Bruder. Vielleicht solltest du mit ihm reden! Ihn nimmt diese Geschichte mit euch auch noch sehr mit. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber ich weiß, dass Marek, seit du wieder in sein Leben geplatzt bist, nicht mehr derselbe ist."

„Was soll das schon bringen? Es ist schon so lange her und es ist vorbei", seufzte Sven und sah aus, als hätte ihm jemand einen Kübel Eiswasser über gegossen.

„Wenn es vorbei und abgeschlossen wäre, wäre Leon noch hier und ihr würdet euch nicht ständig zerfleischen! Also geh da rüber, und rede mit Marek! Lass von mir aus deine ganze Wut auf ihn raus, alles, was du die Jahre über in dir aufgefressen hast und wenn am Ende nichts bleibt, könnt ihr vielleicht beide miteinander abschließen." Oder es erneut miteinander versuchen, setzte ich in Gedanken hinzu. Irgendetwas sagte mir, dass da noch viel zu viele Gefühle im Spiel waren, als dass es tatsächlich aus war zwischen ihnen. „Das bist du Leon schuldig!", setzte ich hinzu, weil sich sein Gesicht zweifelnd verfinstert hatte. „Oder willst du deinen nächsten Wutanfall, wieder an ihm auslassen?" Gut, das war gemein! Aber irgendwie musste ich ihn in die richtige Richtung schubsen. Meinetwegen mit Gewalt und irgendwo war doch was Wahres an der Sache. Wenn Sven seinen Frust loswurde, konnte er Leon bestimmt anders gegenüber treten. Und irgendwann vielleicht auch akzeptieren, dass da mehr war zwischen mir und seinem Neffen. Und vor allem, dass sich die Geschichte nicht wiederholte. Wie auch immer sie auch aussehen mochte.

Wortlos setzte er sich in Bewegung und ich folgte ihm ins Wohnzimmer, wo Marek hin und her lief und dabei in sein Handy sprach. Als er uns erblickte, blieb er stehen, verabschiedete sich und legte auf. Fragend hüpften seine Augen von Sven zu mir und wieder zurück. Ich zuckte lediglich mit den Schultern. Sven, nun fast neben mir, schien total unter Spannung zu stehen. Er öffnete den Mund, wollte gerade ansetzen, doch mein Idiot von Bruder fiel ihm ins Wort.

„Ich habe sowohl mit Angelika aus dem Krankenhaus, als mit der Sandra von der Polizei telefoniert. Sollte irgendwas sein, werden wir sofort benachrichtigt", warf er in den Raum. „Bis jetzt keine Meldungen!", machte er weiter und versuchte aufmunternd zu lächeln. „Das ist doch gut!" Ich nickte ihm zu und Schweigen breitete sich aus. Sven starte ihn immer noch an.

„Du und deine Weiber!", sagte er nach einer unendlich langen Zeit und nun war ich es, der sich auf die Lippe biss. „Das ...", begann Marek und wurde blass. „Wie konntest du einfach mit mir schlafen und dann in ihr Bett zurückkriechen, als wäre nie etwas gewesen?", fragte er und seine Stimme klang rau. „Du bist zu mir gekommen! Du hast angefangen! Du hast gewusst, dass du mehr für mich bist!", er schrie nicht, trotzdem klang seine Stimme schneidend und Gänsehaut überzog meine Arme. Am liebsten wäre ich geflohen, aber ich hatte Angst, mich zu rühren und ihn zu stören. Er sollte alles herauslassen. Das würde ihm guttun. Marek sah zwar gerade drein, als würde er eine Herzattacke erleiden, aber da musste mein Bruder durch. Wenn das so war, wie es Sven gerade schilderte, dann hatte er es irgendwo verdient, damit konfrontiert zu werden. Und vielleicht brachte er es ja endlich auf die Reihe, sich für sein Verhalten damals zu entschuldigen und sich vielleicht, ganz vielleicht, sollte Sven ihm zuhören, zu rechtfertigen.

„Sven ...", wagte mein Bruder einen neuen Versuch, doch dieser wurde ebenso abgeschmettert.

„Und dann hast du mich einfach im Stich gelassen. Warst einfach weg. Hast dich verleugnen lassen, gingst nicht mehr ans Telefon. Totenstille! Du warst mein bester Freund. Und du hast mich benutzt und weggeschmissen! Einfach aus deinem Leben gestrichen, als hatte es mich niemals gegeben. Stattdessen hast du dich verlobt! Um ja keinen Verdacht aufkommen zu lassen!", strudelte es regelrecht aus Sven hervor und ich verzog das Gesicht. Da hatte mein Bruder aber richtig Scheiße gebaut! Er war doch eigentlich so vernünftig. Sah die Dinge klar und ich hatte nie das Gefühl, dass es ein Problem war, dass ich schwul war. Er ging offen damit um, im Privaten, aber auch in der Klinik. Gut, er war damals junger. Und ich erinnerte mich vage daran, dass er tatsächlich für kurze Zeit verlobt war, aber das hielt nicht lange. Er schob vor, dass er sich erst einmal auf seine Ausbildung und sein Studium konzentrieren musste und dann hatte ich nie wieder etwas von einer Beziehung gehört.

Schweigen breitete sich aus. Marek sah nicht weg. Blickte erhobenen Hauptes Sven entgegen und ich hielt den Atem an. Denn der Mann neben mir wartete. Wartete, dass mein Bruder endlich zu sprechen begann, dass er sich endlich erklärte. Gott, ich konnte mir gar nicht vorstellen, was es hieß, sich zehn Jahre lang immer wieder die gleichen Fragen zu stellen. Wobei, ein kleines bisschen doch, wenn ich da an Jannik zurückdachte. Auch da war es so, dass ich mich immer wieder dasselbe fragte, nur im Wissen, nie mehr eine Antwort zu erhalten.

„Du hast recht", sagte mein Bruder schließlich. Schluckte schwer und räusperte sich anschließend. „Das alles hab ich getan und ich bereue es", machte er anschließend leise weiter. „Sven, es tut mir leid! Es war ein großer Fehler!"

Wieder breitete sich Schweigen aus und ich sah zu Sven hinüber, der sichtlich mit seinen Emotionen kämpfte. Verzweiflung wechselte sich mit Wut und Entsetzten ab. Er schien völlig überfordert, nach Fassung zu ringen.

„Und jetzt. War es das, oder wie? Es tut dir leid. Und weiter?" Fassungslosigkeit hatte scheinbar bei ihm das Ruder rumgerissen. „Ich will wissen, warum. Warum bist du zu mir gekommen? Warum hast du mit mir geschlafen? Warum hast du mir gesagt, dass du mich liebst? Nur, um danach zu verschwinden. Verdammt nochmal Marek. Für immer zu verschwinden?"

Nun war auch ich sprachlos! Gott, ja mein Bruder war echt ein Idiot! Wie konnte man nur so einen Mist bauen?

„Weil ... weil es die Wahrheit war ...", flüsterte er und trat einen Schritt auf Sven zu, dieser wich, bleich wie eine Wand, einen Schritt zurück. Mit weit aufgerissenen Augen, die völlig gehetzt umherirrten, starrte er Marek an. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, selbst auch nicht besser aus der Wäsche dreinzuschauen.

„Bitte was?", fragte er nach und erneut verpestete dieses folgenschwere Schweigen die Luft. Ich selbst wusste nicht, was besser wäre, dass Marek endlich antwortete, oder einfach nur die Klappe hielt. Beides würde diese Situation zum Eskalieren bringen und ich wusste echt nicht, ob Sven psychisch bereit war, zu verkraften, was Marek scheinbar zu sagen hatte. Auf der anderen Seite war die Wahrheit nicht immer das Beste? Aber gerade jetzt war ich mir echt nicht mehr sicher. „Was genau war die Wahrheit?", hauchte Sven und seine Lippen bebten.

„Dass ich dich liebe." Mareks Worte waren nicht mehr als ein Flüstern und doch schlugen sie ein wie eine Bombe. Sven, lachte hysterisch auf, nur um sich die Hand vor dem Mund zu schlagen. Jetzt tat er mir wirklich leid. Er war emotional völlig am Ende. Doch dann richtete er sich auf. Ließ die Arme sinken und blickte meinen Bruder geradewegs an.

„Selbst wenn du mich tatsächlich irgendwann geliebt haben solltest, dann hattest du echt eine kranke Art und Weise es zu zeigen! Wie ..."

„Sven ...", fiel ihm mein Bruder ihm ins Wort.

 „WAS?!", fauchte dieser zurück.

„Ich habe nie damit aufgehört ..."

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt