2. Marek - Fragen über Fragen

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Irgendwie hatte ich das Gefühl, alleine hier zu sitzen. Ja, er war da körperlich gesehen, dennoch schien mir, als würde ich einer leeren, gedankenverlorenen Hülle ins Gesicht blicken, die hin und wieder explodierte. Am liebsten hätte ich ihn gefüttert und ins Bett gesteckt, für mindestens eine Woche, damit er wieder auf die Höhe kam. Denn er sah einfach nur fertig aus. Augenringe, abgemagert und labil. Für das alles, was ich sah, war ich auch verantwortlich. Und nicht zum ersten Mal an diesem Abend kam mir der Gedanke, dass ich hier egoistisch handelte. Ich kämpfte um ihn, aber sah ich tatsächlich, was er wollte? Oder machte ich nur alles schlimmer? Ich wollte nicht, dass es ihm schlecht ging. Aber mir schien, dass egal was ich sagte, oder auch tat, ich machte es mit meinem Verhalten nur viel schlimmer. Also, mit welchem Recht zwang ich mich ihm auf?

Folglich versuchte ich, meine Wut zu zügeln, immerhin galt sie in erster Linie mir selbst und nicht ihm. Obwohl es mich verrückt machte, dass er tatsächlich davon ausging, dass ich ihn einfach so austauschen könnte. Ich hatte es versucht. Zehn verdammte Jahre lang und wir sahen ja, wohin das geführt hatte.

„Kein Interesse", presste ich also zwischen den Zähnen hervor und atmete einmal tief durch. „Silvio ist mir egal, er kann von mir aus denken, was er will", setzte ich sicherheitshalber hinzu, weil Sven dreinschaute, als hätte er schon vergessen, worüber wir hier gerade diskutierten. Wann kam dieser Kellner endlich mit unserem Bier und nahm unsere Bestellung auf? Vielleicht würde sich beim Essen alles etwas entspannen. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.

„Du musst mehr essen", entkam es mir vorlaut, ohne dass ich es gewollt hatte, aber ich machte mir echt Sorgen um ihn. „Bist du jetzt meine Mutter?", gab er zu bedenken und rollte mit den Augen. „Mir geht es gut", legte er nach einer Weile nach, was ich unkommentiert ließ, und sah Richtung Bar, wo sich Silvio immer noch sehr viel Zeit mit unserer Bestellung ließ. Viel los war an diesem Freitagabend nämlich noch nicht.

Der Kellner blickte auf, zu uns und als er bemerkte, dass wir in seine Richtung sahen, blickte er sofort weg.

„Und dir ist wirklich nicht aufgefallen, dass dieser Kerl, dich mit den Augen auszieht?", wollte Sven wissen, wandte seinen Kopf wieder zu mir und legte ihn schief, nur um mich fragend zu mustern. Immerhin klang er nicht mehr aufgebracht. Es schien ihn tatsächlich einfach nur zu interessieren.

„Nein", gab ich zu. War es wirklich nicht. Mein Interesse an ihm ging nicht über meine Bestellung hinaus. Sicher, er hatte viel gelacht, er war immer sehr herzlich, hin und wieder hatte er mich am Arm berührt, wenn ich so darüber nachdachte, aber das alles taten Italiener doch oft.

„Wie kannst du bei deinem Beruf so blind für Emotionen sein?", fragte er, wie beiläufig, und die Frage saß. Ich hatte in meinem Job eigentlich überhaupt keine Probleme weder Gefühle zu deuten, noch darauf zu reagieren. Aber das konnte man ja auch nicht vergleichen.

War es denn so schlimm, dass ich nicht merkte, wenn ich angeflirtet wurde? Ich meine, ich hatte doch absolut kein Interesse an diesem Mann.
„Ich ...", fing ich an, doch da wurden plötzlich zwei Gläser Bier auf den Tisch geknallt, dass es überschwappte, und unterbrachen mich. Ich sah auf und blickte zu Silvio hoch.

„Was darf es zum Essen sein?", säuselte dieser überaus freundlich, doch der harte Zug um seinen Mund verriet, dass er sauer war. Das sah wohl selbst ein emotional Verkrüppelter wie ich. Na, super! Mit welchem Recht überhaupt? Ich hatte ihm weder Hoffnungen gemacht, noch war ich auf seine Flirts eingegangen. Ich hatte ja nicht einmal welche zur Kenntnis genommen. Also setzte auch ich einfach halber ein Lächeln auf und bestellte eine XL Salami Peperoni Pizza und einen gemischten Salat für uns beiden.

Als Silvio abmarschierte, widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Mann mir gegenüber, der mich schief musterte. Was hatte ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?
„Was?", wollte ich also wissen und bereute die Entscheidung, um dieses Essen geben zu haben, immer mehr. Dieses Erzwungene hatte doch einfach keinen Sinn. Er fühlte sich unwohl. Und ich auch.

„Und wenn ich etwas anderes gewollt hätte?", dabei hob er die Augenbraue. Kurz verstand ich nicht, vorauf er hinaus wollte, bis mir siedend heiß einfiel, dass ich ohne zu fragen für uns beide bestellt hatte. Oh mein Gott! Was war mit mir los? Vielleicht war auch ich lediglich körperlich anwesend. Mein Hirn hatte ich zumindest nicht dabei.
„Tut mir leid!", hauchte ich entschuldigend und sprang von Stuhl auf, um Silvio hinterher zu hechten, um die Bestellung rückgängig zu machen.

„Bleib hier!", sagte Sven ruhig und griff nach meinem Handgelenk, um mich zurückzuhalten. Seine kühlen Finger schlossen sich um meine warme Hand und augenblicklich reagierte mein Körper auf ihn.

Ob sich das jemals ändern würde? Alleine der Gedanke an ihn, wirbelte alles in meinem Inneren durcheinander und das, obwohl ich mich so angestrengt hatte, ihn zu vergessen. „Ich hätte nichts anderes bestellt", setzte er hinterher und ließ mich los, nicht, ohne langsam über meine Haut zu fahren. Eine Hitze zu hinterlassen. Eine Sehnsucht. Am liebsten hätte ich ihn einfach an mich gezogen und ihn nie wieder losgelassen.

„Okay", seufzte ich stattdessen und ließ mich auf meinen Stuhl nieder. „Ich hab mir nichts dabei gedacht. Es war so wie ...", ich brach ab. Sah hoch zu ihm, in seine schönen Augen, die traurig wirkten, und zuckte mit den Schultern.
„Wie früher", beendete er meinen Satz und nickte.
„Ja", gab ich einfach halber zu. Ich hatte so oft für uns beide bestellt und wir hatten uns immer Pizza und Salat geteilt, ich war gar nicht auf die Idee gekommen, es anders handhaben zu wollen. Trotz der langen Trennung fühlte sich hier zu sein und mit ihm zu Essen wie früher an.

Aber es war nicht mehr wie früher. Nichts mehr war wie früher. Vielleicht sollte auch ich endlich anfangen, die Vergangenheit loszulassen. Wahrscheinlich hatte Sven recht. Das mit uns war nur eine Fantasie, der ich nachlief.

„Es tut mir leid", flüsterte ich und auf Svens Gesicht huschte für einen Augenblick ein Lächeln.
„Was denn?", wollte er wissen und schmunzelte kurz. Nahm sein Bier und trank einen großen Schluck.
„Alles", sagte ich und tat es ihm gleich.
„Okay", erwiderte er schlicht und ließ es dabei. Trank stattdessen sein Bier auf den zweiten Zug leer, hob die Hand und gab dem Barmann, nein nicht Silvio, ein Zeichen, für ein Zweites. Lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Was hast du all die Zeit gemacht?", fragte er nach einer Weile und ließ seinen Blick über mich hinweggleiten.
„Gearbeitet", sagte ich schlicht, weil es der Wahrheit entsprach. Wenn ich die letzten Jahre so Revue passieren ließ, bestanden sie tatsächlich aus lernen und arbeiten. Ich hatte immerhin einen Plan, meinen großartigen Masterplan, der keinen Platz für jemanden wie Sven zuließ und in den hatte ich mich kopfüber gestürzt. Bis auf Frau und Kind hatte ich ja auch alles mit Bravour gemeistert. Nur machte es mich bei weiten nicht so glücklich, wie angenommen.

Schlicht konnte ich sagen, den Verlust, den ich dadurch in Kauf genommen hatte, hatte sich nicht gelohnt.

„Und privat?", ließ er nicht locker und ich ahnte, auf was er hinauswollte.
„Es gab nichts Ernstes", antwortete ich abwiegelnd. Ein paar Frauen, ein paar Kerle, in erster Linie nur One-Night-Stands und der klägliche Versuch, dieses Loch in meiner Brust zu stopfen. Aber es gelang einfach nicht. Nach dem Aufwachen war die Sehnsucht nach ihm nur noch viel größer. Eine verfluchte Nacht, die mein Leben für immer verändert hatte.
„Hmmm ...", seufzte Sven und schien nicht wirklich zufrieden mit der Antwort. Griff erneut nach seinem Bier, das wie durch Zauberhand ausgewechselt wurde. Trank wieder. Viel zu viel. Aber ich sagte nichts. Es stand mir einfach nicht zu. Zumindest auf die Pizza hätte er warten sollen. Damit der Alkohol wenigstens etwas an Grundlage hätte.
„Bei dir so?", stellte ich die Gegenfrage, damit er nicht dazu kam, genauer nachzufragen.
„Ähnlich", gab er zu. „Ein paar kurze Beziehungen, bis Leon zu mir gezogen ist. Danach nichts Ernstes mehr."

Schweigen breitete sich zwischen uns aus und jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Doch noch bevor es komisch wurde, also noch komischer, als es bis jetzt schon war, kam ein anderer Kellner mit unserem Essen. Wortlos begannen wir zu essen. Ich aß zumindest. Sven schien an sonst was zu denken, und kaute seit Ewigkeiten auf einem Blatt Salat herum. Es schien wieder nicht wirklich Hunger zu haben. Was mir aber grade mehr Sorgen machte, war das zweite leere Glas Bier auf nüchternen Magen.
„Schmeckt es nicht?", wollte ich unverfänglich wissen, und ihn so vielleicht zum Essen zu motivieren.
„Doch. Doch", wiegelte er geistesabwesend ab und schien in seiner Welt zu sein. „Du hast noch gar nichts gegessen", versuchte ich es erneut. Diesmal legte er sein Besteck zur Seite und sah mich direkt an.

Sekunden verstrichen und ich schluckte schwer. Irgendetwas würde jetzt kommen. Ich wusste nicht was, nur dass es mir nicht gefallen würde.

„Könntest du mich heim fahren?", fragte er ruhig, hielt aber meinem Blick nicht stand. „Ich denke, ich sollte nicht mehr fahren", setzte er hinzu, sah hinunter auf die Tischdecke und strich sie glatt.
„Jetzt gleich?", wollte ich verwirrt wissen und hatte keine Ahnung, wie sich die Situation so verändern konnte. Gerade war es doch noch halbwegs in Ordnung, und nun wollte er so plötzlich weg? Weg von mir?
„Ja, wenn es dir nichts ausmacht?" Ob, es mir was ausmachte? Natürlich machte es mir was aus. Aber da war schon wieder dieser Teil von mir, der Egoistische, der nur an sich dachte. Und dieser wollte so viel Zeit wie nur möglich mit Sven verbringen.
„Natürlich", sagte ich stattdessen. Ich musste vernünftig sein, an ihn denken. Wenn er nicht mehr hier sein wollte, nicht mehr bei mir, dann musste ich das endlich respektieren.

Also hob ich die Hand zum Zeichen, und der Kellner, der zuvor auch schon das Essen gebracht hatte, erschien.
„Können sie uns das einpacken und die Rechnung bringen, bitte", bat ich ihn, kaum, dass er an unseren Tisch kam. Er sah zwar etwas irritiert drein, stellte aber keine Fragen, sondern verschwand mit unserem Essen wieder in die Küche.
Sven schwieg weiter und ich tat es ihm gleich. Das war es wohl. Das endgültige Ende. Ich würde ihn heimbringen und er würde aus meinem Leben verschwinden. Und ich konnte rein gar nicht daran ändern. Ich würde es auch nicht tun. Er hatte entschieden. Damit musste ich jetzt leben. Also konzentrierte ich all meine verbliebene Kraft darauf, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Ich musste ja nicht lange aushalten. Nur so lange eben, bis ich ihn abgeliefert hatte. Das musste ich schaffen. Ich durfte nicht schon wieder all meinen seelischen Ballast auf ihm abladen.

Als der Kellner wieder an unseren Tisch trat, bezahlte ich und gemeinsam verließen wir das Restaurant. Der Mann neben mir schwankte etwas und ich machte mir immer noch Sorgen um ihn. Statt zu trinken, hätte er essen sollen. Davon hätte er mehr gehabt. So erreichten wir wortlos den Parkplatz.

„Sollen wir deines nehmen? Ich fahre dann mit dem Taxi wieder hierher, dann musst du morgen nicht los und dein Auto holen", schlug ich vor, um überhaupt wieder etwas zu sagen. Dieses Schweigen zwischen uns wurde immer schwerer und ich ertrug es nicht mehr.
„Musst du nicht", sagte Sven schlicht. „Ich möchte es aber", erwiderte ich und streckte die Hand aus, damit er mir seinen Schlüssel reichte. Ohne Widerrede griff er sich in die hintere Hosentasche und reichte mir den Schlüssel, nach dem er sein Auto entriegelt hatte. Öffnete die Beifahrertür und stieg hinein.

Kurz blieb ich stehen. Holte tief Luft und schloss für einen Augenblick die Augen. Versuchte das Gefühlschaos, in meinem Inneren, niederzuringen. Damit musste ich mich später auseinandersetzten.

Umrundete das Auto, stieg ebenfalls hinein, startete es und fuhr los. Kurze Zeit später erreichten wir sein Haus. Ich parkte den Wagen und beide stiegen wir aus.

Unschlüssig stand ich da, wartete darauf, bis er zu mir kam und ich ihm seinen Schlüssel überreichen konnte. Dann wäre es wohl vorbei. Für immer vorbei. Mein beklopptes Herz zog sich zusammen und ich biss mir kurz auf die Lippe. Versuchte, den Schmerz in meinem Inneren zu übertrumpfen, und hoffte, diese Situation nicht zu verschlimmern. Ich musste einfach nur gehen. Ihn einfach nur loslassen. Einfach nur ... wenn es doch nur wirklich so einfach wäre.

Er trat auf mich zu. Blieb sehr dicht vor mir stehen, blickte hoch und mir direkt in die Augen. Seine glänzten und auch seine Wangen waren gerötet, was gewiss auf den Alkohol zurückzuführen war.

„Marek?", fragte er hauchend und kurz überlegte ich, ob ich mir diesen Stimmungswechsel bei ihm einbildete. Doch da trat er noch näher und unsere Fußspitzen berührten sich?
„Hmmm ...?", machte ich irritiert und verstand nicht, was hier gerade geschah. Doch statt mir zu antworten, griff er mir in den Nacken, überbrückte die kurze Distanz und legte seine Lippen sanft auf die meinen. Langsam fielen seine Augen zu. Seine langen Wimpern berührten sachte die dunklen Schatten über seinen Wangen und ich konnte lediglich mit wahrscheinlich aufgerissenen Augen auf ihn hinab starren. Dann löste er sich von mir und lächelte mir schüchtern zu.

„Kommst du mit rein?", wollte er wissen und nickte Richtung Tür.
„Ah ... em ...", stotterte ich völlig mit der Situation überfordert. Spürte immer noch seine Lippen auf den meinen und hätte ihn am liebsten an mich gerissen und zurückgeküsst. „Du bist betrunken", presste ich letzten Endes hervor. Und das war die einzige logische Erklärung für dieses Verhalten.
„Und wenn schon? Außerdem waren es nur zwei Bier", sagt er schlicht und deutete erneut auf die Tür. „Kommst du mit?"
„Ich ... Ich kann nicht?", ja, ich wusste selbst, dass es mehr nach einer Frage klang, aber in mir drin tobte das perfekte Chaos. Ich konnte nicht mit rein. Ich konnte das nicht ausnutzen. Selbst wenn es nur zwei Bier waren, ich war mir ziemlich sicher, dass er es ohne sie nicht machen würde. Das hier war verrückt. Reiner Selbstmord.
„Natürlich kannst du", setzte er entgegen. „Du musst dich nur entscheiden." Er war vielleicht lustig. Wie sollte ich mich da entscheiden? Ich wusste, es war ein Fehler. Es würde immer ein Fehler sein und wer weiß, ob er mir diesen Fehler je verzeihen würde.
„Es wäre ein Fehler", presste ich also hervor und trat einen Schritt von ihm weg. Ging auf Abstand. Versuchte mich zu sammeln und einen klaren Kopf zu bekommen.

Ein triumphierender Ausdruck legte sich über sein Gesicht, als er plötzlich lächelte. „Damals war es auch ein Fehler zu gehen", sagte er schlicht, wandte sich um und ging Richtung Tür. Ließ mich einfach hier zurück.

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt