14. Phil - Sven

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„Hast du noch schlafen können?", fragte ich in die Stille hinein, während wir durch die Tür nach draußen traten und die Stufen hinabstiegen. Immer noch unsicher, ob es eine gute Idee wäre, heute Nacht und ihre Ereignisse anzusprechen. Ich kam damit klar. Nähe, Zuneigung und Sicherheit gehörten zu den Grundbedürfnissen eines jeden von uns, vor allem in einem schwachen Moment und niemand sollte sich dafür schämen. Er hatte es gebraucht, und ich hatte es ihm gegeben. Es hat niemanden weh getan, war kein Weltuntergang, und musste keinem peinlich sein. Dass Leon es ebenso locker sah, konnte ich mir zwar nicht vorstellen, aber immerhin er war da, statt die Beine in die Hand zu nehmen und abzuhauen.

Kurz hatte ich tatsächlich dran gezweifelt, ob er auftaucht. Auch wenn mir mein Plan, Dante bei ihm zu lassen, als ein sehr guter erschien. Aber als die Zeit ins Land zog und er einfach nicht auftauchte, wurde mir doch etwas mulmig. Etwas in mir drin zog sich zusammen. Und ich fragte mich, ob ich ihn heute Nacht vielleicht doch das letzte Mal gesehen hatte. Ich wusste nicht warum, aber dieser Gedanke störte mich gewaltig.

Immerhin er war hier und er ging sogar mit mir mit. Wir sollten einfach darüber reden, dann würde es auch nicht mehr so komisch zwischen uns sein. Das wäre die einfachste Lösung.

„Ja", gab er zu, sah dabei aber nicht zu mir rüber, sondern weg. Seine Haltung spiegelte Niedergeschlagenheit wider. Okay. Locker und einfach würde es wohl nicht werden. Aber ich gab nicht auf.

„Was macht der Kopf?", fragte ich mitfühlend nach. In der Hoffnung, etwas mehr als nur eine Silbe aus ihm herauszubekommen. „Noch dran", erwiderte er trocken und es waren immerhin schon mal zwei Worte. Ich nahm, was ich bekam. Vielleicht konnten wir uns so zu einem ganzen Satz steigern.

„Du, wegen heute Nacht ...", begann ich, kam aber nicht weiter, da ertönte ein: „Phil!", hinter mir. Nicht gerade nett.

Abrupt blieb ich stehen und sah mich um. Marek stand oben auf den Stufen und sah wenig freundlich gestimmt auf uns hinab. „Komm mal her."

„Ich bin gerade auf dem Weg in die Mittagspause", erklärte ich mäßiger Weise, weil mein Bruder es erstens wissen sollte und es zweitens auf der Hand lag.

„Das war keine Bitte", schallte es zu mir hinunter und er schien eindeutig sauer zu sein. Sehr sauer!

Seufzend sah ich zu Leon rüber, der etwas blass geworden war und lächelte ihm aufmunternd zu. Sicherlich dachte er, es ginge um ihn und darum, dass er bei mir übernachtet hatte. Tolles Timing, liebster Bruder! Danach würde ich wieder von Anfang an anfangen dürfen, in der Hoffnung, überhaupt mehr als eine Silbe aus ihm herauszubekommen.

„Gehst du bitte mit Dante, wir sehen uns nach der Pause, okay ...? ", strich meinem Hund kurz über den Rücken, widerstand dem Drang ebenfalls auch dem immer noch panisch dreinschauenden Leon über den Kopf zu streicheln und ging widerwillig auf meinen Bruder zu.

„Komm mit!", befahl er, kaum, dass ich zu ihm getreten war. Packte mich am Ellbogen und zog mich regelrecht mit in sein Büro.

„Was ...!?", dabei versuchte ich mich aus seinem Griff zu lösen, doch er ließ es nicht zu. Bis er mich durch die Tür bugsierte, diese schloss und sich daran lehnte. Seufzend schloss er die Augen.

„Muss ich dir sagen, dass dein Verhalten mir gegenüber nicht angemessen ist, oder hast du es selbst bemerkt", fuhr ich an. Seine Augen flogen auf und glühten regelrecht vor Zorn.

„Was war das heute Nacht?!", überging er meine Frage. Bebte schon fast am ganzen Körper. Ich hatte es noch nie erlebt, dass er die Fassung verlor. Irgendwas triggerte ihn gewaltig in letzter Zeit. Oder sollte ich lieber irgendwer sagen.

„Das hab ich dir doch am Telefon schon gesagt", gab ich zurück und schaute irritiert drein. Was wollte er wissen? Das, was danach zwischen Leon und mir passiert war, ging ihn schließlich nichts an und würde ich ihm auch nicht auf die Nase binden. Schon gar nicht, wenn er so beschissen darauf war.

„Sven kommt her", presste er hervor und es sah fast so aus, als würde es ihm körperliche Schmerzen bereiten.

„Okay", erwiderte ich. „Wo ist das Problem?"

„Wo das Problem ist?", er wirkte wirklich fassungslos. Aber ich sah es nicht. Vielleicht konnte ich es mir irgendwo am Rande denken, aber selbst dann wäre seine Reaktion übertrieben. „Nur weil ihr irgendwelche Spielchen veranstaltet, bin ich gezwungen ihm gegenüberzutreten und mich zu erklären", pfefferte er mir wütend entgegen und ich atmete erst einmal tief durch, um nicht auf seine Provokation einzugehen. Es brachte nichts, wenn wir jetzt verbal aufeinander losgingen. Er schien damit wohl wirklich nicht klarzukommen. Und einer sollte die Nerven behalten. Dann war das zur Abwechslung mal ich.

„Ich habe ihm lediglich geholfen. Hätte ich ihn alleine, betrunken im Heaven lassen sollen, nach dem er gesagt hat, er geht nicht heim? Da waren Kerle, die sind wie Aasgeier um ihn herumgeschwirrt?", fragte ich stattdessen, so ruhig wie mir möglich war...

„Nein!", kam es nach einer Weile und Marek ballte die Fäuste. „Na, also. Ich kam in den Club. Er war schon da und er war bereits betrunken. Es war meine Pflicht zu handeln. Leon hätte Sven nie angerufen. Ich fand, er sollte wissen, wo er ist, statt sich die ganze Nacht Sorgen zu machen. War das falsch?"

„Nein!", knurrte er und schien um Fassung zu ringen.

„Was genau regt dich dann so auf? ", stellte ich die Frage der Fragen und sah dabei zu, wie sein Mundwinkel von Wut zuckten.

„Ich will ihn nicht sehen!", presste er hervor. „Ich will nicht mit ihm reden. Und deinetwegen muss ich jetzt!" Er schrie nicht, aber seine Stimme klang so scheidend, dass ich eine Gänsehaut bekam.

„Das ist nicht wahr. Du hast ihn als Praktikant aufgenommen. Du hast ihn mir aufgedrückt und jetzt passt es dir nicht, dass ich mich um ihn kümmere?" Es war gar nicht so leicht, die Wut in Schach zu halten. Auch wenn ich wusste, dass es wenig Sinn machte, ihn mit Vorwürfen zu bombardieren. Ich befand mich ebenfalls in einer Situation, in der ich nicht sein wollte. Seinetwegen. Immerhin war das immer noch ein wunder Punkt, er hätte Leon auch einfach jemanden anderen bei der Arbeit begleiten lassen können. Da hatte er nicht das Recht, die Schuld mir zuzuschieben.

„Marek bitte!", flehte ich ihn an. „Sag mir endlich, was los ist! Du bist seit Tagen nicht mehr du selbst! Was ist zwischen dir und Sven passiert, das dich immer noch so wütend macht?"

„Das geht dich nichts an!", zischte er zurück. „Das geht mich sehr wohl was an, wenn du mich in dein Büro zitierst und mich anbrüllst." Bei meinen Worten sanken seine Schultern nach unten und er wirkte, als hätte jemand sämtliche Luft ausgelassen.

„Ich will ihn nicht sehen ...", flüsterte mein Bruder plötzlich todunglücklich und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Ich will ihn einfach nicht wiedersehen."

„Dann red' ich mit ihm, wenn er kommt", erwiderte ich. Jetzt tat er mir furchtbar leid. Ich kannte meinen Bruder stets als jemanden, der stark und wirklich von sich überzeugt war. Ihn so zu sehen, passte überhaupt nicht zu ihm. Also tat ich das, was mir als Erstes einfiel. Ich überbrückte die Distanz zu ihm, und zog ihn in meine Arme. „Du brauchst nicht mitzukommen."

Er atmete einmal tief durch, dann löste er meine Arme von seinem Hals. „Danke, Kleiner. Aber davor kann ich mich wohl nicht drücken." Hob die Schultern und setzte wieder seinen perfekt sitzenden Gesichtsausdruck auf. Vorbei war der Augenblick der Schwäche.

„Tut mir leid, dass ich dich so angepflaumt habe. Das zwischen mir und Sven ist fast zehn Jahre her. Ich sollte endlich anfangen, damit abschließen", verkündete er bestimmt, und ich fragte mich kurz, ob er sich wirklich selbst glaubte, oder nur mir etwas vormachen wollte.

„In Rätseln du sprichst junger Padawan", seufzte ich und auf Mareks Gesicht huschte ein Lächeln. „Ach, komm her!", sagt er traurig lächelnd und breitete die Arme aus, um nun mich in eine Umarmung zu ziehen.

Etwas verhalten ging ich darauf ein. Sich ständig in den Armen zu liegen, war einfach nicht unsere Art. Wir pflegten eher die Distanz. Vielleicht war das auch der Grund, warum wir nie über das Wichtigste in unserem Leben sprachen.

„Leon hat mich geküsst", sagte ich und merkte, wie die Arme um mich sich verkrampften. „Ich hab seinen Kuss nicht erwidert", fügte ich an, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.

„Oh Mann, kleiner Bruder ... das sagen wir Sven lieber nicht!", murmelte Marek und drückte mich noch einmal fest an sich. „Na gut. Ich hatte was mit Sven. Als wir auf der Uni waren", seufzte er betrübt.

Überrascht von seinen Worten blickte ich zu ihm auf, in sein gequält dreinschauendes Gesicht. „Du bist schwul?", wollte ich irritiert wissen. Ich kannte meinen Bruder nur in Begleitung von Frauen. Und auch so hatte ich nie das Gefühl, er würde auf Kerle stehen, oder sie mehr beachten. „Ich denke, wenn, dann wohl eher bi. Sven war der Erste und Einzige."

„Und wo ist das Problem? Was ist das Problem?", fragte ich nach, weil mir das Ausmaß nicht wirklich klar werden wollte. „Wir waren betrunken, hatten spontan Sex und ich bin panisch abgehauen. Hab den Kontakt abgebrochen und nie wieder ein Wort mit ihm gewechselt. Bis heute Nacht. Das mit Leon ist alles schriftlich erfolgt und jetzt muss ich ihm auch noch persönlich gegenüber treten", erzählte mein Bruder und ich konnte nur noch fassungslos zuhören. Das war eine Seite, die ich ihm niemals zugetraut hätte. „Aber ...", fing ich an und wurde unterbrochen. „Mir ist das alles klar. Ich mach' meinen Job nicht erst seit gestern. Und eigentlich weiß ich es besser. Ich hatte Panik und hab mich von ihr leiten lassen. Ich hab ihn verletzt. Meinen besten Freund. Das kann ich mir niemals verzeihen und er mir wahrscheinlich auch nicht."

„Kann es sein, dass du ihn immer noch magst?", wollte ich ganz vorsichtig wissen und hoffte, damit seine Nerven nicht überzustrapazieren. Aber seine Wut, seine Panik und sein Verhalten zeugten nicht nur von Schuld. Er war noch zu emotional in diese Sache verwickelt.

„Ich weiß es nicht", sagte er schlicht und ließ mich los, um von mir wegzutreten. „Aber das spielt doch eigentlich keine Rolle. Die Zeit, das zu klären, war vor zehn Jahren."

„Es ist nie zu spät solche Sachen zu klären", erwiderte ich und Marek rollte lächelnd mit den Augen. „Ich seh schon, wir haben die gleichen Seminare besucht. Aber, wir haben auch ausgemacht, dass wir uns nicht gegenseitig therapieren. Ich reg' mich wahrscheinlich völlig sinnlos auf und Sven hat die Sachen schon längst vergessen", sagte Marek und ich glaubte ihm kein Wort. Hielt aber die Klappe. Er hatte für seine Verhältnisse eh viel von sich preisgegeben. Das wollte ich nicht kaputt machen. Nach dem Treffen mit Sven könnten wir das immer noch vertiefen, sollte es den notwendig sein.

„Was genau will Sven hier?", wollte ich dann doch wissen.

„Er möchte Leon abholen und über sein Verhalten und seinen psychischen Zustand reden." „Er ist kein Patient", fiel ich ihm bissig ins Wort und verschränkte automatisch die Arme.

„Ich weiß", gab mein Bruder beschwichtigend zurück. „Er meinte in erster Linie auch sein Verhalten zu Hause und in der Schule", erklärte Marek. „Phil, kann es sein, dass du ihn vielleicht doch mehr als magst?"

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt