10. Phil - ein Augenblick

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Ganz automatisch versteifte ich mich. Dass Klara außer mit Marek oder mir über Jannik sprach, entzog sich meiner Vorstellungskraft. Deswegen war es auch wenig verwunderlich, dass ich Leon gerade anstarrte, als wäre er das achte Weltwunder.

„Ich ...", fing er an zu stammeln, weil er wohl meinen Blick missdeutete. Aber ich hatte gerade echt keine Lust, hier mitten auf dem Gehweg zur Klinik, über Jannik zu reden.

„Lass uns gehen. Dante braucht seinen Auslauf", forderte ich ihn also auf, reichte ihm die Leine, die er gleich nahm, und ging voran. Keinen Augenblick später folgten mir meine beiden Schatten.

Sie hatte mit Leon geredet. Eine Tatsache, die mir nicht eingehen wollte. Wieso jetzt? Wieso er?

Ich widerstand dem Verlangen, mich umzudrehen und nach ihm zu sehen. Es war irre. Ständig kreisten meine Gedanken um ihn. Ständig brachte er mich auf die Palme und ständig kehrte er das Schlechte aus mir hervor. Dieser verdammte Monat würde die Hölle werden. Vielleicht sollte ich mit Marek reden, dass er Leon jemanden anderen zuteilte. Jemanden, der mehr Nerven besaß, und nicht bei jeder Kleinigkeit ausflippte, oder sich vor Sorgen nicht richtig auf die Arbeit konzentrieren konnte, wenn der Praktikant plötzlich stiften ging und über eine Stunde nicht mehr auftauchte. Kein Wort sprach, einen die meiste Zeit ignorierte, und in der Pause dann plötzlich über Jannik reden wollte.

Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich wie ein Blinder regelrecht durch den Wald gelaufen war. Denn keinen Moment später betraten wir die Lichtung. Niedergeschlagen, weil sämtliche Energie meinen Körper verlassen hatte, ließ ich mich auf die Bank plumpsen. Lehnte mich zurück und schloss die Augen. Sog die frische, kühle Waldluft ein und hoffte, sie würde mich etwas runterbringen.

„Das mit deinem Freund tut mir leid", sagte Leon nach einer Weile, nach dem er ein paar mal das Stöckchen für Dante geworfen hatte. „Du musst nichts sagen. Weißt du, ich wollte bloß, dass du es von mir selbst erfährst und nicht später von Klara."

Die Schatten der Vergangenheit würde mich wohl auch heute nicht loslassen. Seufzend öffnete ich die Augen und sah zu ihm auf. Vielleicht hätte ich sie geschlossen lassen sollen und ihn und seine Worte einfach ignorieren. Stattdessen sah ich, wie er da stand, mit hängenden Schultern und seinen verkniffenen Gesichtsausdruck in die Ferne richtend. Verdammt, ich wollte nicht über Jannik reden!

Wie gestern, legte ich mich auf die Bank und schloss die Augen. An Schlaf, oder ein klein wenig Flucht aus der Realität war heute aber nicht zu denken. Stattdessen war ich erneut mit der Vergangenheit konfrontiert. Sah tagtäglich sein Gesicht in Klaras und wurde an den Tag erinnert, an dem die Welt für eine verdammt lange Zeit still stand.

Verrückt, dass zwei Anrufe so viel Leid verursachen konnten, so viel zerstörten.

Zuerst war da sein Anruf bei mir, und später der seiner Eltern, die mir mitteilten, er wäre tot. Dazwischen lag eine Stunde. Eine unendlich lange Stunde, in der ich verzweifelt gehofft hatte, er würde sich vielleicht umentscheiden, oder dass mein Gefühl mich trügen würde. Dass ich seine Worte missverstanden hatte. Aber letzten Endes läutete erneut das Telefon, riss mich aus meinem Bangen und schon, als ich die Nummer sah, hatte ich Gewissheit. Wusste, was ich hören würde, sobald ich abhob und doch traf es mich wie ein Schlag. Er hatte sich entschieden und wir alle mussten mit dieser Entscheidung ab diesem Zeitpunkt leben. Ob wir nun wollten, oder nicht ...

„Was hat sie dir erzählt", seufzte ich nach einer Weile, ließ aber die Augen geschlossen und lauschte stattdessen der Natur, die immer wieder unterbrochen wurde von dem Rascheln der Blätter, wenn sich mein Hund in Bewegung setzte.

„Das ihr Freunde ward und das er gegen einen Baum gefahren ist", fasste Leon die damalige Situation recht pragmatisch zusammen.

„Ja", bestätigte ich, ohne irgendetwas weiter zu erklären. Aber im Grunde trafen seine Worte ins Schwarze. Wir waren Freunde und jetzt war er tot. Fünf verdammt lange Jahre, die mir ab und an vorkamen, als wäre es erst gestern gewesen. Und ab und an, als wäre es ein anderes Leben gewesen. Beides machte einen verrückt.

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt