15. Leon - Liebe auf den ersten Blick

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„Da bist du ja wieder? Wo ist Phil?", fragte Klara und tauchte dabei wie immer einfach so aus dem Nichts auf. Das, oder ich war in letzter Zeit einfach nur zu abgelenkt.

„Den hat Marek vorhin einkassiert, seit dem hab ich ihn nicht mehr gesehen", erklärte ich ihr, während sie sich zu mir auf den Stufen vor der Klinik niederließ. „Wie war dein Gespräch mit deinen Eltern?", fragte ich nach und erntete ein genervtes Stöhnen.

„Dramatisch wie immer! Sie weinen, ich schreie und an Ende geht jeder enttäuscht seines Weges." „Klingt nicht sonderlich produktiv", erwiderte ich und kraulte Dante, der zufrieden schnaubte. „Was ist das zwischen dir und Dante? Euch gibt es ja nur noch im Doppelpack", wollte sie grinsend wissen und streckte ihre Füße auf den Stufen aus. „Liebe auf den ersten Blick", gab ich zurück und drückte den Hund noch fester an mich. Genoss das seidig glatte und weiche Fell unter meinen Fingern. „Leon, der Romantiker. Hätte nicht gedacht, dass einer wie du, an sowas wie Liebe auf den ersten Blick Gedöns glaubt", kicherte Klara und lehnte sich zurück. Schloss die Augen und genoss scheinbar die warmen Strahlen der Sonne. „Einer wie ich?", fragte ich nach und ließ meinen Blick über sie wandern. Auch heute war sie wieder ganz in Schwarz gekleidet. Ebenso das Buch, welches sie scheinbar nie aus der Hand legte, war bei ihr.

„Hmm ... eiskalt, unnahbar, mürrisch, Einzelgänger", zählte sie nicht gerade die nettesten Eigenschaften auf. „Du meinst wie du, nur in männlich", konterte ich und brachte sie zum Lachen. „Touché!", gab sie immer noch glucksend zu. „Und nein, an die Liebe auf den ersten Blick glaub' ich eigentlich nicht", setzte ich noch an. „Außer bei Dante vielleicht." Dieser schnaubte auf meinem Schoss, als würde er mir zustimmen wollen. Wir verstanden uns einfach wortlos.

Es hatte wirklich was Magisches, das zwischen ihm und mir. „Was ist das Problem zwischen dir und deinen Eltern?", griff ich ihre Aussage von vorhin auf.

„Ach ... na ja, sie leben ihr Leben weiter, so als hätte es Jannik nicht gegeben, und ich soll es auch. Sie finden, ich verschwende meine Zeit hier in meinem goldenen Käfig und das hätte mein Bruderherz nicht gewollt", fing sie an zu erzählen und seufzte schwer. „Haben sie nicht auch ein bisschen recht?" „Klar, aber muss ich es ihnen auf die Nase binden?", gab sie zurück und schloss wieder ihre Augen, als sie ihren Blick gegen die Sonne richtete. „Ich weiß, dass es falsch ist so zu denken, aber irgendwie hab ich immer das Gefühl, ihn zu vergessen, wenn der Alltag turbulent wird. Es ist jetzt schon oft schwer für mich, mich an seine Stimme zu erinnern. Ich mach' die Augen zu, seh zwar sein Gesicht, aber ich höre ihn nicht mehr." Zum Ende hin wurde ihre Stimme immer leiser.

„Malst du ihn deswegen immer wieder?", wollte ich wissen und schloss ebenfalls die Augen gegen die blendende Sonne. „Hmm ... ja ...", gab sie zurück. „Und weil es mir das Gefühl gibt, in diesem Augenblick mit ihm verbunden zu sein. Aber genug von mir, was war das mit dem Kuss?"

„Ich war betrunken!", rechtfertigte ich mich. „Küsst du dann jeden?", bekam ich retour und hörte regelrecht das Schmunzeln aus ihrer Stimme. „Wer weiß?" Ich zuckte mit den Schultern, auch wenn sie es nicht sehen konnte. „Ja, klar!", erwiderte sie und glaubte mir kein Wort. Und ich? Glaubte ich mir? Gut, so betrunken und in der Stimmung, in der ich war, wäre es durchaus im Bereich des Möglichen, dass ich mich jedem an den Hals geworfen hätte. War da nicht sogar so ein alter Kerl gewesen? Irgendwie war der Abend so verschwommen.

Was ich definitiv sagen konnte, nüchtern hätte ich ihn nie geküsst. Definitiv nicht!

Ein komisches Gefühl in meinem Inneren ließ mich aufhorchen. Meine Worte Lügen straffen. Wieder war da diese Wärme, dieses Gefühl von Sicherheit, welches ich heute Nacht in seinen Armen empfunden hatte. Sein Geruch, seine Wärme, sein Körper, das alles hat sich gut angefühlt. Und auch wenn es sicher falsch gewesen war, mich ihm so aufzudrängen, tat ich mich schwer, es zu bereuen.

„Ach komm schon, Leon!", fuhr sie mich genervt an und boxte mich in die Seite. „Da liegt was in der Luft! Ich kann es spüren ...", flötete sie weiter und ich rollte mit den Augen. „Das ist die frische Landluft!", gab ich trocken zurück, weil es wirklich danach roch, als hätte in der Nähe ein Bauer sein Feld mit Gülle bearbeitet. „Du bist so ein Idiot!" Wider traf mich ein Schlag von der Seite.

„Aua", gab ich trocken von mir und rieb über die schmerzende Stelle. „Heule nicht herum", schimpfte sie auch schon und musterte mich von der Seite. „Ich mein das ernst. Irgendwas ist da zwischen euch. Willst du nicht herausfinden, was es ist?"

„Da bist du ja.", ertönte hinter uns eine Stimme und wir fuhren beide erschrocken herum. „Mensch, Phil!", seufzte Klara und rieb sich die Brust. „Du hast mich fast zu Tode erschreckt."

„Gott bewahre, dann würde dein Geist mich hier ja tagtäglich heimsuchen", konterte dieser. „Wir müssen los", fügte er dann an mich gewandt. „Dante!" Dieser erhob sich von seinem Platz und trottete zu Phil, um sich von ihm streicheln zu lassen. Auch ich erhob mich, winkte Klara zu und fragte mich, wie viel er wohl von unserer Unterhaltung mitbekommen hatte. Aber er machte nicht den Eindruck, als würde er es ansprechen wollen. Stattdessen lief er voran und ich ihm hinterher. Irgendwie wurde das langsam zur Gewohnheit. Also dass ich ihm, wie sein Hund hinterhertrottete.

„Hast du Ärger bekommen?!", fragte ich nach einer Weile, als wir fast den Gruppenraum erreichten, in denen die jüngeren Kids auf uns warteten. Heute stand wieder der Hasenstall auf dem Plan.

„Was meinst du?", wollte er wissen, blieb stehen und sah sich nach mir um. „Na, weil dein Bruder vorhin nicht sehr begeistert gewirkt hat. Hast du viel Ärger bekommen, weil ich bei dir gepennt habe?" Kurz musterte er mich und schien abzuwägen, was er mir sagen sollte. Dann seufzte er, schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. „Nein, eigentlich nicht. Aber Sven kommt später vorbei und will ein Gespräch mit Marek. Worauf mein Bruder nicht wirklich scharf ist."

„Oh nein ...", stöhnte ich auf. „Was will den Sven hier?" Gut, ich konnte mir sehr gut vorstellen, was er hier wollte, aber dennoch. Konnte er sich nicht einfach raushalten? Na super! Jetzt fühlte ich mich noch beschissener.

„Ich denke, er hat sich Sorgen gemacht, weil du nicht heimgekommen bist." „Ja, aber ...", fiel ich ihm ins Wort. „Er wusste doch von dir, dass es mir gut ging und wo ich war. Was gibt es da noch zu bereden? Ich bin volljährig. Das scheint er immer wieder zu vergessen."

Phil zuckte lediglich mit den Schultern und öffnete die Tür. Das Gespräch schien wohl beendet zu sein.

Wir betraten den Raum, wo die Kinder auf uns warteten. Augenblicklich veränderte sich Phils Haltung, wurde offener und herzlicher. Er setzte sich zu den Kids, begrüßte sie, fragte, wie ihr Tag war, und schilderte den heutigen Ablauf. Danach gingen wir hinaus in den Garten und fingen an, den Stahl in Kleingruppen zusammenzubauen. Ich war heute in der Gruppe zusammen mit den beiden Jungs Theo und Emil. Wachte über die Arbeit, hielt das Holz fest, und zeigte ihnen, wie man die Nägel und Schrauben richtig setzte. Ja, doch. Die Kleinen mochte ich wirklich. Hin und wieder sagen sie sogar ein paar Worte zu mir und so verging die Zeit wie im Flug. Am Ende der Doppelstunde hatten wir die Tür fertig gezimmert, an der wir gearbeitet hatten und die anderen Kinder betrachteten zum Abschluss gegenseitig unser heutiges Werk. Nicht mehr lange und wir konnten alle Teile zusammen bauen und vielleicht würde ich ja noch hier sein, wenn die ersten Häschen einzogen.

Aber was dachte ich da bloß? Eigentlich wollte ich doch gar nicht mehr hier sein. Weder bei Phil, noch bei den Kids, selbst wenn sie in Ordnung zu sein schienen. Irgendwie hatte die Nacht heute etwas verändert und ich wusste nicht recht, ob es mir gefiel.

„Woran denkst du?", riss mich Phil aus den Gedanken. Er hatte die Kinder verabschiedet und trat nun zu mir und zu Dante an den Tisch, an dem ich saß und auf ihn gewartet hatte.

„Nicht so wichtig", gab ich zurück und blickte auf die Uhr. „Ja, ich denke auch, dass Sven jeden Augenblick eintreffen wird", folgerte er meinen Blick richtig. „Muss ich dabei sein?", fragte ich nach und hoffte inständig, mein Gegenüber würde nein sagen. Ich hatte keine Lust zuzuhören, wie er mit Marek in meiner Gegenwart über mich sprach.

„Ich denke, du kannst dich drücken", bestätigte Phil und streckte sich gähnend. Aber wenn wunderte das schon, wir hatten beide nicht viel Schlaf ab bekommen. Er hat auch noch den ganzen Tag gearbeitet und nicht wie ich, ihn lediglich abgesessen. „Ich kann mich nicht drücken. Hab meinem Bruder versprochen, dabei zu sein", setzte er nach einer Weile hinzu.

„Erzählst du mir, was sie besprochen haben?" Dabei setzte ich meinen Hundeblick auf, dem sonst niemand widerstehen konnte. Phils Mundwinkel zuckten kurz, bis er ernst wurde und mich nachdenklich musterte. „Bitteeee!", zog ich lang und setzte zu dem Blick auch noch ein bezauberndes Lächeln hinzu. Spätestens dann konnte zu mir garantiert niemand nein sagen. Und es schien zu fruchten. „Na, gut!", knickte auch er ein und lächelte zurück. „Aber nur, wenn du versprichst, in einer Situation wie gestern zu mir zu kommen, statt dich zu betrinken und mit irgendwelchen zwielichtigen Kerlen mitzugehen. Du bist immer willkommen, auch nach der Zeit des Praktikums."

Ich öffnete den Mund, wusste aber nicht so recht, was ich sagen sollte. Das, was er mir da anbot, klang viel zu verlockend, als dass ich das tatsächlich in Betracht ziehen könnte. Er war nein Vorgesetzter und spätestens in drei Wochen, wenn wir getrennte Wege gehen würden, wäre ich vergessen. Würde aus seinem Leben verschwinden und ihn nie wieder sehen. Nein, das war kein Angebot, das ich annehmen konnte.

„Hör auf, darüber nachzudenken!", riss er mich erneut aus den Gedanken. „Versprochen?", wollte er zum Wiederholten Mal wissen.

„Versprochen", erwiderte ich. Es fühlte sich gut an. Selbst, wenn ich nicht mit dem Gedanken spielte, je wieder bei ihm aufzutauchen.

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt