26. Phil - loslassen

246 39 11
                                    

Ich konnte regelrecht dabei zusehen, wie die Farbe aus Mareks Gesicht wich. Still saß er da, den Blick keine Sekunde von Sven wendend. Ein ungutes Gefühl machte sich ihn mir breit. Wäre ich Sven, ich wüsste nicht, ob ich die Antwort darauf wirklich wissen wollen würde. Zu wissen, dass man eine so lange Zeit völlig umsonst gelitten hatte, nur weil der Mensch, in den man verliebt war, sich nicht traute? Schwierig. Das machte doch alles keinen Sinn!

Sven saß stattdessen mit herausforderndem Blick da und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. In dieser absoluten abweisenden Haltung wirkte er wie die Ruhe vor dem Sturm. Wie ein Soldat, der nur noch auf den Befehl wartete, in den Kampf zu ziehen und seinen Gegner zu vernichten. Und so würde es wohl auch sein.

Ich wüsste nicht, was mein Bruder sagen könnte, um die Situation zu entschärfen. Immerhin rechnete ich ihm hoch an, dass er noch nicht das Weite gesucht hatte. Aber dafür bedeute ihm Sven wohl tatsächlich zu viel.

„Warum so schweigsam?", fragte dieser nach und die Kälte in seiner Stimme nahm noch mehr zu. Seine Geduld für diese Nacht schien ausgereizt zu sein. „Gerade eben hast du nur so gesprudelt vor Erklärungen", setzte er an und Marek schloss kurz die Augen. Öffnete sie wieder. Straffte die Schultern und erwiderte erneut Svens Blick.

„Zuerst wollte ich es nicht wahrhaben. Und dann dachte ich, es wäre zu spät", sagte Marek schlicht und ich hielt die Luft an. Das war zwar ehrlich, aber als Antwort in so vielerlei Weisen falsch. Die ganze Situation erinnerte an eine Katastrophe. Man konnte nicht wegsehen, aber man ahnte, dass es nicht gut ausgehen würde.
„Du warst also erneut ein Feigling?", wollte Sven wissen und beugte sich über den Tisch, während mein Bruder zusammenzuckte. Sie waren sich so nahe und gleichzeitig so fern.
„Ja", hauchte dieser und räusperte sich. „Hätte es denn etwas gebracht?", setzte er nach einer Weile fragend hinzu und legte den Kopf schräg, wie er es oft machte.
„Nein!", konterte Sven sogleich und die Schultern meines Bruders fielen hinab. „Vielleicht!", schickte er genauso hart hinterher. Schien mit sich und seinen Gefühlen zu hadern. „Ich weiß es nicht!", gab er letzten Endes zu und fuhr sich übers Gesicht. „Vielleicht wäre es dann noch nicht zu spät gewesen."

Mir sackte mein Herz hinab und ich konnte mir gar nicht vorstellen, was diese Antwort bei Marek anrichtete.
„Ist es wirklich zu spät?", fragte er tonlos und sah drein wie ein getretener Welpe. Innerlich flippte ich aus. Am liebsten hätte ich ihn umarmt und an mich gezogen und Sven geschüttelt, bis er endlich nein gesagt hätte. Meinen Bruder von seinem Leiden erlöst hätte. Aber das stand mir einfach nicht zu. Also blieb ich einfach schweigend daneben sitzen und tat weiterhin so, als wäre ich nicht da. Die beiden hatten mich sowie schon vergessen.

„Ja. Natürlich", dabei klang er so vehement, dass ich mich fragte, wenn er mehr überzeugen wollte. Marek, oder nicht doch sich selbst? „Was stellst du dir vor, Marek? Dass ich zehn Jahre auf dich gewartet habe?", er hielt inne. Seine Augen flogen regelrecht über das Gesicht meines Bruders hinweg. „Dass ich nach all der Zeit, nach all dem Verrat noch Gefühle für dich habe?", zum Ende hin wurde seine Stimme leiser, brüchiger und er schüttelte immer wieder den Kopf. „Das, das wäre doch Irrsinn ..."

Wieder legte sich der Mantel des Schweigens über meine Küche und ich spürte die Verzweiflung, die regelrecht in der Luft lag. Und ich, als fünftes Rad am Wagen, saß daneben und konnte nur zu sehen. Nichts, was ich sagen würde, würde helfen. Da mussten sie beide jetzt alleine durch.

Seufzend lehnte sich Sven in seinem Stuhl zurück. Fuhr sich übers Gesicht und schluckte schwer. Hob den Blick und betrachtete meinen Bruder. Der immer noch mit hängenden Schultern da saß.

„Danke ...", fing Leons Onkel irgendwann einmal an zu sprechen. Zeit spielte schon lange keine Rolle mehr. „Danke, dass du trotz der langen Zeit ehrlich zu mir warst. Aber ..."
Ja, dieses kleine bescheuerte Wort, das alles, wirklich alles, was davor gesagt wurde, zunichtemachte. Alle Hoffnungen zerstörte. Einen bitteren Nachgeschmack hinterließ.

„... ich finde, wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen und wieder getrennte Wege gehen", beendete er seinen Satz und ich konnte mit ansehen, wie sich Enttäuschung und Traurigkeit im Gesicht meines Bruders ausbreitete. Noch nie hatte ich ihn so emotional erlebt. Dafür war eher ich in unserer Familie bekannt.

Er tat mir so unendlich leid, in diesem Augenblick. Am liebsten hätte ich Sven geschüttelt. Aber auch das stand mir nicht zu. Sie waren alt genug.

„Mensch, Marek ...", seufzte Sven, dem die Reaktion seines Gegenübers nicht entgangen schien. „Was hast du erwartet? Dass du dich erklärst, wir vergessen die zehn Jahre und knüpfen da an, wo wir aufgehört haben?", dabei beugte er sich noch mal vor, griff über den Tisch und streichelte über Mareks Hand. Realisierte scheinbar bei seiner Berührung erst, was er da tat und zog seine Finger augenblicklich zurück. Lehnte sich nach hinten und brachte wieder Abstand zwischen ihnen.
„Es gab damals schon nichts, an das man hätte anknüpfen können. Wir hatten Sex, du hast entschieden zu gehen. Ende der Geschichte", beendete Sven und fuhr sich durchs Haar.

„Ich habe gar nichts erwartet. Ich hatte nicht einmal vorgehabt, dir das zu sagen", versuchte sich mein Bruder zu rechtfertigen, klang dabei aber lediglich niedergeschlagen.
„Na dann tun wir am besten so, als hättest du es auch nicht getan", erwiderte Sven und sah auf seine Kaffeetasse hinab. Spielte mit dem Henkel. Als mein Bruder nicht antwortete, setzte er: „Wir sollten sowieso einen Schlussstrich ziehen", sah auf und musterte Marek über den Tisch hinweg. „Am besten wäre es, wenn wir uns nach heute gar nicht mehr sehen." Marek öffnete den Mund und wollte gerade zum Sprechen ansetzen, da redete Sven einfach weiter. Ließ ihn so nicht zu Wort kommen. „Das mit dem Praktikum hat sich ja sowieso erledigt. Gib mir die Daten für deine Klinik, dann überweise ich dir das Geld."
„Das brauchst du nicht. Ich will kein Geld von dir. Nicht dafür", flüsterte Marek niedergeschlagen. Ruckartig fuhr mein Kopf in die Höhe. Wie jetzt? Das war das Geld für mein Projekt. Für meine Kinder. Wie konnte er es so einfach ausschlagen? Gut, ich wusste, warum und ich verstand ihn auch, aber trotzdem machte sich Enttäuschung in mir breit. Immerhin hatte ich alle Pläne fertig. Alle Angebote eingeholt. Alles wartete auf den Startschuss und nun das. Niedergeschlagen ließ ich die Schultern hängen.

„Ich will dir nichts schulden", riss mich Sven aus meinen Gedanken und ich sah wieder hoffnungsvoll auf, doch der Ausdruck auf dem Gesicht meines Bruders sprach Bände. Er würde das Geld nicht annehmen. Nicht von Sven.

„Du schuldest mir gar nichts", erwiderte Marek mit Nachdruck und setzte dann noch etwas leiser: „Außerdem hatte es ja was Gutes, dass Leon bei uns war", hinzu. Erhob sich und ging mit seiner leeren Tasse zur Kaffeemaschine. Wieder wurde es still in meiner Küche und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ich zumindest verabschiedete mich immer noch von meinem Traum. Die beiden anderen hatten wohl eher andere Probleme.

„Können wir nicht wenigstens wieder Freude werden?", fragte Marek nach einer Weile immer noch mit dem Rücken zu uns. So, als konnte er die Antwort nicht ertragen. „Ich hab dich vermisst", fügte er noch leiser hinzu. Sven neben mir ließ den Kopf hängen und fuhr sich durchs Gesicht. Er sah so fertig aus. So verzweifelt. Am liebsten hätte ich ihn auch in den Arm genommen. Sie alle beide.

„Das ist keine gute Idee", sagte er schlussendlich und Marek wandte sich wieder uns zu.
„Wieso?", fragte er nun und man hörte die Verzweiflung aus seiner Stimme. „Es könnte wieder sein, wie früher."
„Hast du schon mal daran gedacht, dass ich vielleicht nicht mehr will, dass es wie früher ist? Jede Erinnerung an damals hat seinen faden Nachgeschmack. Ist mit Schmerz und Enttäuschung verbunden. Wieso sollte ich das zurück haben wollen?"

Marek öffnete den Mund, schloss ihn wieder nur, um es gleich darauf erneut zu wiederholen. Wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann sah er weg. Klammerte sich an seine Tasse und schwieg. Schien zu überlegen, was er sagen konnte, um den Mann neben mir umzustimmen. Aber selbst mir fiel absolut nichts ein, was Svens Meinung hätte ändern können.

„Hasst du mich so sehr?", stellte Marek die Frage der Fragen und die Knöchel seiner Finger, die sich um die Tasse schlossen, traten weiß hervor. Die Pause, die nun entstand, dauerte viel zu lange, für meinen Geschmack. Und ich fragte mich, was sich Sven überlegen musste.

„Nein", sagte er schlussendlich. „Ich hasse dich nicht."
„Warum gibst du uns dann nicht eine zweite Chance?", stürzte sich mein Bruder auf die Antwort, wie ein Ertrinkender. „Ich will dich nicht wieder aus meinem Leben verlieren."
Auch Sven erhob sich. Der Stuhl, auf dem er saß, rutschte geräuschvoll über die Fliesen meiner Küche. „Hör auf!", fuhr er meinen Bruder an. „Es ist vorbei!", setzte er hinterher. „Für immer vorbei!"

„Das glaub' ich dir nicht!", keuchte Marek und überwand das Stück zum Tisch. Knallte seine Tasse auf die Platte, dass sie überschwappte. Beide Männer standen sich inzwischen gegenüber. Beide über den Tisch gebeugt. Und erdolchten sich regelrecht mit Blicken. „Sag mir, dass du nichts mehr für mich empfindest. Dass ich dir egal bin und ich höre auf!"
Svens Pupillen weiteten sich, aber er wandte sich nicht ab. Ihre Blicke verschmolzen und ich fragte mich, wie viel Drama ich noch vertragen würde, bevor ich die beiden hochkant aus meiner Wohnung werfen müsste. Alleine mit zuzusehen tat schon körperlich weh. Wie sie sich fühlten, wollte ich mir gar nicht erst ausmalen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so unwohl in Gegenwart anderer und so fehl am Platz gefühlt. Also schloss ich die Augen und wünschte mich weit weg. So weit wie nur möglich.

„Du weißt, dass ich das nicht kann", fing Sven an. „Du wirst mir nie egal sein, aber ..." Da war es wieder, dieses beschissene Wort. Eigentlich sollte man es aus dem Sprachgebrauch streichen. Es brachte nur Unheil. Das hast du gut gemacht, aber ... Ich mag dich, aber ... du bist gut, wie du bist, aber ... aber, aber, aber ... ich hatte dieses Wort bis jetzt schon nicht wirklich gemocht, aber ab heute konnte ich sagen, ich hasste es. Und nein, kein aber!
„... aber es ist nicht mehr genug. Findest du nicht auch, wir sollten loslassen, statt alten Erinnerungen hinterherzurennen?"

Ein Bellen an der Tür ließ mich zusammen zucken und ich rappelte mich in Windeseile auf, als ich realisierte, was dieses Bellen zu bedeuten hatte. „Leon!", stieß ich hervor und rannte los! Weg von hier, weg von den beiden, in der Hoffnung, dass sich Dante nicht täuschte und tatsächlich Leon vor meiner Türe stand.

Unter VerrücktenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt