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"Es geht schon wieder Santino." Erkläre ich , aber mein Retter scheint mich nicht zu hören. Er geht einfach weiter. Nur gut, dass er so starke Arme hat, ansonsten wäre er bei meinem Gewicht ja sicherlich in die Knie gegangen, so pummelig wie ich seiner Meinung nach bin. Einen Moment bin ich kurz davor ihn mit dieser Tatsache zu necken, doch ich will nicht zugeben, dass die Bezeichnung "Pummelchen" mir etwas ausgemacht hat.Der Kies unserer Einfahrt knirscht bei jedem Schritt unter seinen Füssen und ruft unangenehme Erinnerungen hervor. Raffael wird schon gewusst haben, warum er auf die Schweine zu sprechen gekommen ist. Er weiß immer genau wo er einen Menschen am schmerzlichsten treffen kann. Als würde er durch all die Makulatur des äusseren Anscheins direkt in den Kern der Seele blicken. Ich hoffe, dass ich nie wieder diesen kalten bohrenden Blick spüren werde. Mit Schaudern denke ich an das engelsgleiche Gesicht, das alles daran zu setzen scheint diesen Anschein Lügen zu strafen. Mein Gefühl sagt mir, das die Hoffnung, ihm niemals wieder zu begegnen vergeblich ist. Nach wie vor gilt es also jede Sekunde des Lebens so gut es geht auszukosten.

Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachte die bauschigen Wolken die am Himmel treiben. Als Kind dachte ich allen ernstes meine Mutter würde dort oben irgendwo wohnen und mich beobachten. Amo hingegen dachte immer das sie hinter dem Himmel in den unermesslichen Weiten des Weltalls auf den Sternen reitet. Unsere Mama, meinte er, sei genau wie die Sterne, tot, doch ihr Licht sei noch immer sichtbar. Dieses Privileg solle dabei seiner Meinung nach nur den ganz besonderen Verstorbenen zuteil werden. Ich habe ihn nie gefragt, ob er das immer noch glaubt. Aber es ist schwer, diese kindliche Phantasie mit dem kaltblütigen Mafiasprössling in Zusammenhang zu bringen, der seinen eigenen Bruder mit einer Waffe bedroht. Ich frage mich, was er dazu sagt, das ausgerechnet mein neuer Mitbewohner mich abgeholt hat, um mich geradewegs in die von der Familie so geächtete WG zu bringen. Es erfüllt mich mit Stolz, dass ich diesen kleinen Sieg davongetragen habe. Auch wenn mich beim Gedanken daran, dass ich meinen Vater vielleicht nie wiedersehen werde, ein flaues Gefühl ereilt. Letztendlich überwiegt jedoch die Hoffnung, dass seine Wut auf mich nicht von langer Dauer ist. Aber wie alle Mafiosi ist auch mein Vater kein berechenbarer Mensch.

Ein Motorengeräusch reisst mich aus meinen Gedanken. Ein weißer Sprinter fährt an uns vorbei. "Deine Sachen," Santino deutet mit dem Kinn in die Richtung in die der Sprinter auf die Landstrasse abbiegt. "Glaube ich nicht." Unsere Blicke treffen sich. Wenn man doch nur das blöde flatterhafte Gefühl  abstellen könnte. Der herbe Duft seines Aftershave macht die Sache nicht besser. Fast bin ich froh als wir seinen grauen Schlitten erreichen und er mich auf dem Beifahrersitz absetzt. Sorgsam zieht er den Gurt heraus und lässt ihn einrasten. Dabei achtet er peinlich genau darauf, meinen Oberkörper nicht zu berühren. Der Anblick des fleischfarbenen BHs hat wahrscheinlich so großen Abscheu in ihm ausgelöst, das er eine Gänsehaut bekommt, beim Gedanken an diese fleischigen Wabbelbrüste, die man darunter zwangsläufig vermuten muss. 

Aber er lässt sich nichts anmerken, sondern lächelt mir wortlos zu. Wäre er nicht so ein unverbesserlicher Adonis, der mir nicht vor ein paar Stunden erklärt hat, dass ich absolut nicht sein Typ bin, könnte man es beinahe als schüchtern bezeichnen.

Diese Situation ist definitiv nicht real. Vielmehr ist es immer noch, als sehe ich mir selbst beim Träumen zu. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum die Stimme meines Gewissen mich ausnahmsweise mal in Ruhe lässt. In Träumen hat sie sich noch nie zu erkennen gegeben. Vielleicht weil Träume die wahrhaftigste Form dieser inneren Stimme sind. "Tut der Knöchel noch weh?" Erkundigt sich Santino . "Nein." Ich umschliesse seine kalte Hand und fahre mit dem Daumen über die raue Haut.In Träumen ist alles erlaubt. Ich werde ja sowieso gleich aufwachen. Und dann werde ich erleichtert feststellen, dass meine Missetaten nichts mit der Realität zu tun haben.Santino verschränkt eine Hand mit Meiner und startet mit der andern den Motor. Unsere verschlungen Hände betätigen den Schaltknüppel und ich lache los. Es ist, als ob die ganze Anspannung des Vormittags mit diesem Lachen von mir abfällt. Santino sieht mich mit einer unwiderstehlichen Kombination aus Stirnrunzeln und Grinsen an , die bei jedem anderen bescheuert ausgesehen hätte.

PromiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt