22 - Floskel trifft es gut

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Für einen Moment bin ich hin und her gerissen zwischen dem Gedanken, einfach umzudrehen und wegzulaufen oder zu ihm zu rennen und ihn zu umarmen.

Beides würde irgendwie ... einen merkwürdigen Eindruck hinterlassen.

Vor meinem inneren Auge spielt ein Film, in dem ich ihn in der Umkleide mit den anderen Footballspielern sehe und er erzählt: „Und dann rennt dieser Freak einfach weg, als wäre ich ein Geist oder sowas."

Dieser Film wird von einem Zweiten abgelöst, der mir Simon mit gerunzelter Stirn und angewidertem Gesicht zeigt. „Was stimmt denn mit dir nicht?", fragt er mich in dieser Version, weil ich fälschlicherweise noch immer meinen toten Bruder in seinem Körper vermute und ihn unerwartet an mich drücke.

Da beides keine Optionen sind, die ich bereit bin, auszuprobieren, entscheide ich mich für die einzige Variante, die mir noch einfällt.

Ich bleibe stehen und starre zurück.

Als nach einer gefühlten Ewigkeit weder Simon noch ich sich bewegt haben, fasse ich mir doch ein Herz und gehe langsam auf ihn zu.

Vielleicht denkt er genauso über die erste Fluchtmöglichkeit nach und tut es nur nicht. Die Möglichkeit, dass irgendein Geist zwischenzeitlich durch meinen Körper zu ihm gesprochen hat und er das unbändige Bedürfnis hat, mich zu umarmen, halte ich für eher unwahrscheinlich, aber andererseits ...

Möglicherweise verliere ich allmählich einfach den Verstand und habe mir diese ganze Shawnbeschwörungssache nur eingebildet.

Während mein Kopf mich mit absurden Fragen und Bildern bombardiert, nähere ich mich ihm immer weiter und komme letztlich vor ihm zum Stehen.

Simon sitzt noch immer auf der Bank, sein Blick nun geistesabwesend in die Ferne gerichtet.

Vielleicht hat er gar nicht mich angesehen, sondern nur so vor sich hingestarrt? Hat Shawn seinen Körper verlassen? Ist Shawn weg, aber der ‚echte' Simon auch und hier sitzt nur noch die Hülle? Doch wie ist die Hülle dann hierhergekommen?

In meinem Kopf – hoffentlich nicht nach draußen – schreie ich einmal kurz, damit diese ganze Fragerei mal ein Ende hat und räuspere mich einmal kurz, als ich mich auf den hübschen Jungen auf der Bank vor mir konzentriere.

Er hebt den Kopf, seine blau-grünen Augen betrachten mich irgendwie ... müde?

Wortlos lasse ich mich neben ihm auf der Bank nieder und schaue in die Richtung, in der sich Shawns Grab befindet.

Simon neben mir fummelt mit seinen langen Fingern an einem kleinen, weißen Zettel herum und räuspert sich. „Kennst du das, wenn man was total Abgefahrenes träumt und wenn man aufwacht, weiß man nicht, was Traum war und was Realität?"

Ich presse meine Lippen aufeinander und nicke stumm, denn ich habe keine Ahnung, was ich darauf antworten soll.

Sein Knie wippt schnell auf und ab, während seine Hände weiterhin das Papier zwischen ihnen bearbeiten. Der kleine Zettel sieht schon ganz zerfleddert aus, als hätte Simon ihn bereits mehrfach zusammen- und wieder auseinandergefaltet, ein- und wieder ausgerollt.

Er räuspert sich. „Ich ... hm ... ich hab von dir geträumt."

Mit aufgerissenen Augen drehe ich meinen Kopf zu ihm.

Hätte Simon Donovan diesen Satz vor drei Tagen zu mir gesagt, wäre ich vor Aufregung vermutlich in Ohnmacht gefallen. Auch jetzt pocht mein Herz rasend schnell in meiner Brust und ich wage es kaum zu atmen, doch diese Aufgregung ist eine andere. Es ist die Angst, dass er alles weiß. Oder ... Hoffnung?

Seine blau-grünen Augen schauen weiterhin geradeaus, während seine Zähne seine Unterlippe bearbeiten. „Es war so ... ganz seltsam, als ob ich im Kino sitze und zuschaue, während jemand anderes mich spielt, verstehst du?"

Wieder nicke ich, ohne etwas zu sagen. Ich glaube, ich habe sogar aufgehört zu atmen.

„Es war irgendwie so ... merkwürdig. Ich weiß, dass ich gestern mit meinem Dad ..." Er stoppt sich kurz, ehe er weiterredet.

Natürlich, er kann ja nicht wissen, dass ich weiß, wo er gestern war. Niemand weiß das.

„Unterwegs war", fährt er fort. „Aber irgendwie war ich auch nicht richtig dabei. Und dann warst du auf einmal da und wolltest mir helfen und wir haben ..."

Er dreht seinen Kopf zu mir, seine Augen betrachten mich einen Moment, ehe er rasch seinen Blick senkt.

Ohne dass er es ausspricht, weiß ich, dass er gestern Abend meint, als ich mit seinem Körper auf meinem Bett lag.

Simons Finger falten den Zettel auseinander. „Und als ich aufgewacht bin, lag da dieser Zettel. Ich kann mich irgendwie erinnern, dass ich ihn geschrieben habe, aber ich habe keine Ahnung, warum."

Ich beuge mich vor und lese die kritzeligen Buchstaben.

Weide auf dem Friedhof. Eric wird helfen.

Sofort weiß ich, dass diese Nachricht nur von Shawn kommen kann und schlucke schwer.

„Werde ich verrückt?", fragt Simon kaum hörbar und als ich ihn anschaue, blicken seine Augen tränenerfüllt auf den Zettel.

Ich schüttle energisch meinen Kopf und werfe einen wütenden Blick zu Shawns Grab.

Tolle Hilfe, großer Bruder.

Ich fahre mit meiner Zunge über meine staubtrockenen Lippen. „Ich ... ich hatte einen Bruder."

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Simon seinen Kopf hebt und mich von der Seite anschaut.

„Er war sechs Jahre älter als ich und ging aufs College in Boston." Meine Stimme klingt ganz heiser.

„Was ... was ist mit ihm?"

Ich reibe meine Handflächen aneinander und hole tief Luft. „Er ... er ist gestorben. Es war ein Autounfall. Der Fahrer war betrunken, keiner der Insassen hat überlebt."

Simon scheint die Luft anzuhalten, ehe er leise sagt: „Das tut–"

Abwehrend hebe ich meine Hand, denn ich ertrage es nicht, wenn jemand so etwas zu mir sagt. Weder von Simon, noch damals vom Pastor oder irgendjemand anderem.

„Verstehe", kommt es zu meiner Überraschung von ihm. „Ich hasse diese Floskel auch. Entschuldige."

Ich schnaube leise. „Floskel trifft es gut."

Er lehnt sich neben mir auf der Bank zurück und starrt gedankenverloren vor sich hin. „Das ist scheiße."

Ich ziehe verwundert meine Augenbrauen zusammen und drehe mich zu ihm nach hinten. „Was?"

Er zuckt mit den Schultern. „Das sollten die Leute sagen. Nicht ‚Das tut mir leid', wenn sie rein gar nichts zu der Situation beigetragen haben."

Ich nicke zustimmend und bin überrascht, als er aufgebracht weiterredet: „Weißt du, was noch schlimmer ist? ‚Das ist nicht fair'!"

Ich rolle mit den Augen und nicke zustimmend. „Zu mir hat Mr. Reagan gesagt ‚Das hat deine Familie nicht verdient'."

Simons Augenbrauen heben sich entsetzt. „Der Geschichtslehrer Mr. Reagan?"

Ich nicke nur und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als er genervt antwortet: „Und wir haben den Anblick seiner gemusterten Hemden nicht verdient."

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