52 - Wieso fragt mich das jeder?

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Ich weiche Simons Blick aus. „Was? Ja klar", lüge ich.

Er beugt sich etwas vor, um mich eingehend zu betrachten. „Sicher? Du ... du wirkst irgendwie ... anders."

Ich rolle mit den Augen und ziehe mein Handy aus der Hosentasche. „Mir geht's nicht so gut. Ich denke, ich rufe meine Mutter an und lasse mich abholen."

„Oh!", macht er überrascht. „Na-Natürlich. Kann ... kann ich irgendwas tun?"

Ich schüttle den Kopf, als ich bereits die Nummer meiner Mutter auswähle und mir das Gerät ans Ohr halte.

„Eric, was ist los?", antwortet sie nach dem zweiten Klingeln. „Ist was passiert?"

„Hey Mom, mir geht's irgendwie nicht so gut. Ich hab Magenschmerzen und ... könntest du mich abholen kommen?"

Ich kann sie praktisch aufspringen hören, als sie sagt: „Natürlich, mein Schatz. Ich bin gleich da."

Nachdem ich aufgelegt habe, steht Simon noch immer bei mir und betrachtetet mich besorgt. „Ist irgendwas passiert?", will er wissen. „Habe ich ..." Er blickt sich verzweifelt um, als würde die Antwort irgendwo auf dem Schulhof zu finden sein, ehe sich mir wieder zuwendet. „Habe ich irgendwas falsch gemacht?"

Mein Magen zieht sich krampfhaft zusammen, wenn ich ihn so ratlos und verunsichert vor mir sehe. Er kann ja nicht wissen, dass sein Ruf meinetwegen auf dem Spiel steht. Und das nachdem er bereits so lange ein anderes Geheimnis erfolgreich bewahrt hat. Das hat Simon einfach nicht verdient.

Also mache ich das Einzige, was ich gerade tun kann, um ihm zu helfen: ich halte mich von ihm fern.

Ich weiche seinem Blick aus, stopfe meine Hände noch tiefer in die Taschen meiner Jacke und schüttle den Kopf. „Ich ... ich gehe schon mal nach vorn zur Straße. Könntest du Daphne bitten, mich in der nächsten Stunde zu entschuldigen? Meine Mom wird sicherlich noch im Sekretariat anrufen."

„Na ... na klar, das mache ich", stammelt er und sieht mich weiterhin mit diesen besorgten, blau-grünen Augen an. „Ich ... ich hab heute Nachmittag Training, aber meldest du dich?"

„Hm", mache ich und blicke ungeduldig zur Straße, als könnte ich das kleine, blaue Auto meiner Mutter so herbeizaubern.

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Simon seine Hand hebt und es scheint, als wollte er nach meiner greifen, doch im letzten Moment nimmt er sie wieder herunter und schiebt sie in die vordere Tasche seiner Jeans. „Dann ... hören wir uns später", murmelt er.

Ich nicke, sehe ihn jedoch nicht an, sondern setze mich in Bewegung, um schnell zur Straße zu gelangen. Zu meiner Erleichterung erscheint Moms Auto genau in diesem Moment an der Ecke, so dass ich kurz darauf bereits auf den Beifahrersitz gleiten und mich anschnallen kann.

Ihre Hand fährt besorgt über meinen Kopf und sie sieht mich prüfend an. „Was ist los, Eric? Du bist ganz blass."

„Können wir einfach nur nach Hause?", presse ich mit erstickter Stimme hervor.

„Schatz, ist was passiert? Hat Simon irgendwas gemacht?"

Aufgebracht werfe ich meine Hände in die Luft. „Wieso fragt mich das jeder?", schreie ich. „Was hat Simon damit zu tun, wenn es mir beschissen geht?"

Mit erschrocken aufgerissenen Augen starrt sie mich einen Moment an, ehe sie nach vorn durch die Windschutzscheibe blickt und ohne ein weiteres Wort losfährt.

Ganz fantastisch. Jetzt habe ich auch noch meine Mutter angeschrien, die nun wirklich gar nichts für irgendwas kann.

Verdammter Liam!

Zu Hause angekommen renne ich auf direktem Wege die Treppe nach oben und verkrieche mich in meinem Zimmer.

Mom stellt keine Fragen und kommt auch nicht hinterher.

Ich rolle mich in meine Bettdecke ein, so dass nur noch meine Nase etwas hervorschaut, damit ich atmen kann.

Mein Kopf dröhnt und mein Magen sticht und ich krümme mich zusammen, als würde das irgendwas helfen.

Ich wünschte, Shawn wäre da. Nicht unbedingt hier, aber einfach noch am Leben. Er wäre der Einzige, mit dem ich darüber reden könnte und der mir nicht sofort sowas Bescheuertes raten würde wie „Das kannst du dir nicht bieten lassen" oder „Simon wird das bestimmt egal sein".

Natürlich würde Simon sagen, dass es ihm egal ist. Aber das wäre es nicht. Spätestens wenn der erste homophobe Spruch kommt oder sein Vater beim Einkaufen vielleicht darauf angesprochen wird, dass sein Starfootballersohn schwul ist, wird es ihm nicht egal sein.

Ich schließe meine Augen und versuche mir vorzustellen, was Shawn mir raten würde, doch alles, was ich sehe, sind Simons besorgte blau-grüne Augen.

•••

Irgendwann schrecke ich hoch, weil es an der Tür klingelt. Verschlafen schaue ich auf meinen Wecker, der mir verrät, dass kurz vor sechs Uhr abends ist. Vermutlich hat mein Dad seinen Schlüssel wieder mal vergessen oder er war nach der Arbeit gleich einkaufen und hat keine Hand frei.

Stöhnend befreie ich meine Arme aus dem Kokon, den meine Bettedecke um mich bildet und zerre dabei mein Handy aus der Hosentasche.

Müde reibe ich mein Auge, während ich das Gerät entsperre und feststellen darf, dass ich sowohl von Daphne als auch von Simon Nachrichten erhalten habe.

Daphne

Hey Herzchen, geht's
dir wieder besser? Tut
mir leid, dass ich nicht
mitbekommen habe,
dass es dir echt
schlecht geht. Bleibst
du dann morgen zu
Hause?

Ich seufze und tippe rasch eine Antwort an sie.

Daphne

Hey, sorry, bin
eingeschlafen. Weiß
noch nicht wegen
morgen. Alles ok bei
dir?

Bei mir ist alles gut.
Aber du hast uns
allen einen ganz
schönen Schrecken
eingejagt!

Ist nur mein Magen.
Hab bestimmt was
Falsches gegessen.

Hast du dich bei
Simon gemeldet?

Ich bin gerade erst
aufgewacht, Daphne!

Unter normalen
Umständen würde
ich mich geehrt
fühlen, dass ich
deine Nr. 1 bin, aber
er war wirklich
super besorgt um
dich. Ruf ihn besser
an.

Stöhnend lasse ich die Hand, die das Handy hält, kurz neben mir auf die Matratze sinken und starre verzweifelt an die Decke.

Simon anrufen? Und was soll ich sagen?

Hey, doch Bock auf ein Outing? Wäre irgendwie besser, bevor das jemand anderes für dich übernimmt. Oder ich muss meine beste Freundin an einen ekligen Typen opfern, aber irgendwie finde ich diese Option auch nicht so geil.

An dieser Rede müsste ich vielleicht noch etwas feilen.

Ich nehme das Handy wieder hoch und öffne stattdessen erst einmal den Chat mit Simon, um zu lesen, was er mir geschrieben hat.

Simon

Hey Eric, ich bin
jetzt beim Training,
aber wenn du mir
schreibst, sehe ich
es nachher trotzdem.

Hey, wir haben jetzt
Pause. Geht es dir
schon etwas besser?

Training ist jetzt
vorbei. Bei dir alles
gut?

Bist du sicher, dass
alles okay mit uns ist?
Ich werde das Gefühl
nicht los, dass ich was
falsch gemacht habe.
Wenn ja, tut es mir leid.

Den letzten Satz lese ich nur noch verschwommen, weil mir blöde Tränen in die Augen steigen.

Ich lasse das Handy neben mich fallen und schniefe laut, als es leise an meiner Zimmertür klopft.

„Ja?", rufe ich und wische trotzig mit dem Handrücken über mein Gesicht.

Begeisterung | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt