51 - Ist gar nicht so schwer

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Wie der Rest der Biologiestunde verläuft, bekomme ich nicht mit.

Nur wenige Augenblicke nachdem Liam seine Drohung – denn genau das ist seine unverschämte Forderung – ausgesprochen hat, wird mir so schlecht, dass ich mich melde und den Lehrer bitte, zur Toilette gehen zu dürfen.

Die Toiletten der Schule sind, wie vermutlich überall, ein Ort, den man, sofern es einem möglich ist, um jeden Preis meidet. Da sich mein Magen jedoch so schmerzhaft zusammenkrampft, dass mir beinahe schon schwarz vor Augen wird, stürze ich in den stinkenden, kalten Raum und sprinte in eine der wenigen Kabinen.

Ich beuge mich hilflos über die Schüssel, doch nichts passiert. Lediglich der Schmerz in meinem Bauch bleibt und die wilden Gedanken, die durch meinen Kopf rauschen.

Was verspricht Liam sich von seiner Forderung? Was, wenn er seine Drohung wahrmacht?

Zwar sind die meisten der Schüler an unserer Schule sehr tolerant, aber ich will mir gar nicht das Gerede ausmalen, das losbricht, wenn herauskommt, dass der beliebteste Schüler aus dem Footballteam schwul ist. Und überhaupt steht ja gar nicht fest, ob Simon homosexuell ist. Vielleicht ist er auch einfach nur ericsexuell.

Wow, dass mein Kopf in solch einer Situation zu einem solchen Fanboymove im Stande ist, verblüfft mich noch mehr als alles andere.

Verzweifelt lehne ich mich mit dem Rücken gegen die geschlossene Kabinentür und rutsche langsam nach unten. Ich schlinge meine Arme um meine Knie und lege meine Stirn auf meinen Unterarmen ab.

Wenn ich Daphne davon erzähle, wird sie ausrasten. Sie wird schreien und vermutlich mit Dingen werfen und dann wird sie losziehen und Liam umbringen.

Irgendwann ertönt das Pausensignal und die Tür zu den Toiletten wird geöffnet, als die ersten Schüler hereinkommen, um sich zu erleichtern.

Mühsam rapple ich mich auf, betätige die Spülung und eile in den Vorraum, um meine Hände zu waschen. Als ich den Raum verlasse, steht Daphne mit erhobener Augenbraue vor mir.

„Huch!", mache ich verblüfft.

„Huch!", äfft sie mich nach und verschränkt die Arme vor der Brust. „Was war das bitte für eine Aktion?"

Ich reibe mir den Bauch und senke den Blick. „Mir ... mir geht's nicht so gut."

Es ist nicht gelogen. Mir ist immer noch schlecht.

„Hat Liam gefurzt, oder was?" Sie verzieht angewidert ihr Gesicht. „Der hat mich die ganze Stunde so angegrinst. Kannst ruhig sagen, wenn er einen fahren gelassen hat."

Augenrollend trotte ich zu meinem Spind, sie folgt mir natürlich. „Er hat nicht gefurzt, ich hab einfach nur Magenschmerzen, Daphne."

Sie legt ihre Hand auf meinen Unterarm und betrachtet mich eindringlich. „Ist irgendwas passiert, Eric?" Die Sorge in ihrer Stimme ist unverkennbar.

Ich schüttle den Kopf und öffne meinen Spind, um meine Jacke herauszuholen und anzuziehen.

„Ist es irgendwas wegen Simon?"

„Was soll er damit zu tun haben?", lüge ich.

Sie kann ja nicht ahnen, wie richtig sie mit ihrer Vermutung liegt. Allerdings kann ich ihr das nicht sagen, es sei denn, ich freue mich auf die Aussicht, mir demnächst die Besuchstage im Gefängnis mit den Zwillingen aufteilen zu müssen.

„Ich weiß nicht, nur so ein Gefühl", überlegt sie laut, bis ihr plötzlich einer der Zwillinge von hinten die Kapuze über ihren Kopf stülpt, während der andere schon neben ihr steht und über beide Ohren grinst.

„Hey!", protestiert meine beste Freundin, kichert jedoch wie ein richtiges Fangirl, als sie die beiden Jungs sieht.

„Wollen wir rausgehen?", schlägt einer der Jungs vor und schaut zwischen Daphne und mir hin und her. „Heute regnet es zumindest nicht und die Halle ist von einer siebten Klasse belegt."

Ich nicke lediglich zustimmend und schaue mich suchend um, kann Simon jedoch nirgends entdecken.

„Simon ist noch beim Coach", klärt mich Daphnes zweiter Freund auf. „Muss sich einen Einlauf abholen."

„Oh", mache ich verblüfft und bemühe mich um einen lässigen Gesichtsausdruck. Unauffällig starre ich auf die Nase des Jungen und versuche, einen Leberfleck auszumachen, kann aber keinen entdecken.

„Das ist Tom", scheint Daphne mein Gegrübel zu erraten.

Ich lache unbeholfen und werfe verzweifelt die Hände in die Luft. „Ich habe keine Ahnung, wie sie euch beide auseinanderhalten kann."

Die Jungs lachen und Daphne hakt sich bei mir unter, als sie mich zum Ausgang zerrt. „Komm, ich bring es dir in der Pause bei. Ist gar nicht so schwer."

Es regnet zwar heute nicht, aber dennoch sind die Temperaturen einstellig und der Wind tut sein Übriges, die Gemütlichkeit erfolgreich fernzuhalten.

Wir beschließen gemeinsam, die Pause im Wartehäuschen der Bushaltestelle zu verbringen, da es dort zumindest eine Sitzgelegenheit gibt und wir einigermaßen windgeschützt sind.

Ich setze mich neben die Zwillinge auf die kleine Bank im Inneren des hölzernen Häuschens, während Daphne sich auf den Schoß des einen setzt und ihre Beine kurzerhand über die Oberschenkel des anderen legt. Der, der neben mir sitzt, legt ganz selbstverständlich seine Hände auf ihre Knie, die Finger rutschen leicht dazwischen und er und Daphne tauschen ein süßes Grinsen aus. Der andere hält meine beste Freundin an der Taille umschlungen, sein Kinn ruht an ihrer Schulter.

Für diesen kleinen Moment vergesse ich mein Unwohlsein und die sausenden Gedanken in meinem Kopf über Simon und seinen Ruf oder Liam und seine unverschämte Drohung und wie ich nicht weiß, wie mein Herz diese ganze Sache unbeschadet überstehen soll.

In diesem Moment freue ich mich einfach über das Glück meiner besten Freundin, die nicht nur einen, sondern zwei feste Freunde hat, die sie so anhimmeln, wie sie es verdient. Die mit so einer Selbstverständlichkeit und Zärtlichkeit mit ihr umgehen, dass sich eine wohlige Wärme in meiner Brust ausbreitet, wenn ich sie miteinander beobachte.

„Also, Tom ist der ruhigere von den beiden", klärt Daphne mich auf und streichelt sanft über die Wange des Zwillings, auf dessen Schoß sie sitzt. „Und Till schiebt beim Lächeln immer den linken Mundwinkel so ein bisschen mehr nach oben." Sie schiebt ihre freie Hand zu seinen Fingern zwischen ihre Knie und wie bestellt grinst Till, seine Mundwinkel tatsächlich nicht ganz synchron.

Ich werde vermutlich trotzdem noch eine Weile brauchen, bis ich die zwei problemlos auseinanderhalten kann, aber ich bin mir sicher, dass ich es früher oder später hinbekommen werde.

„Hey", macht plötzlich ein atemloser Simon neben mir und all meine Anspannung ist augenblicklich zurück. „Sorry, der Coach hat mich ordentlich zusammengefaltet, weil ich am Sonntag nicht beim Training war."

Ganz selbstverständlich lässt er sich auf die andere Seite neben mir auf die Bank fallen, sein Oberschenkel streift dabei meinen.

Ich schlucke hart gegen den Kloß in meinem Hals und schlage meine Beine übereinander.

„Oh ja, der war ganz schön sauer, dass du nicht da warst. Ryan kriegt kaum einen Meter ohne dich hin", lacht Till.

Simon rollt mit den Augen und winkt ab. „Der soll sich nicht so anstellen. Es war nur Training, kein Spiel." Er mustert die ungewöhnliche Sitzposition der drei und stupst zwinkernd mit seiner Schulter gegen meine. „Na, da wird's wohl ernst, was?"

Ich zwinge mir ein Lächeln auf, weiche seinem Blick jedoch schnell aus und räuspere mich. „Ich ... hm ... ich denke, ich geh mal wieder rein. Mir ... mir ist ganz schön kalt", lüge ich und erhebe mich.

Obwohl ich die bohrenden Blicke der anderen in meinem Nacken spüre, drehe ich mich nicht um, sondern stopfe meine Hände in die Jackentaschen und haste über den Schulhof.

Eilige Schritte auf dem Asphalt lassen mich aufhorchen und dann liegt eine Hand auf meiner Schulter und dreht mich zu sich um. „Hey Eric, ist alles okay bei dir?", fragt Simon und seine blau-grünen Augen mustern mich besorgt.

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