7 - Hab's mir schlimmer vorgestellt

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„Was zur Hölle, Shawn?", schimpfe ich, als ich meinen Kopf zurückziehe.

So habe ich mir meinen ersten Kuss mit Simon Donovan ganz bestimmt nicht vorgestellt!

Er grinst mich an und zuckt mit den Schultern. „Was denn? Es war die einfachste Lösung sie loszuwerden. Und glaube mir, für mich war das auch nicht gerade angenehm!" Mit verzogenem Gesicht wischt er sich den Mund an Simons Ärmel ab.

Verzweifelt vergrabe ich meine Hände in meinen Haaren. „Ich verstehe das einfach nicht", wispere ich.

Er seufzt neben mir. „Ich auch nicht. Aber es ist trotzdem irgendwie ... cool."

Ich hebe meinen Kopf und sehe ihn an, obwohl er nichts mit meinem großen Bruder gemeinsam hat. Die Art wie er mit mir redet, wie wir uns einfach sofort in die Wolle kriegen, aber auf diese geschwisterliche Weise – all das ging nur mit Shawn.

„Also ... wie ist es so, tot zu sein?", frage ich vorsichtig.

„Gar nicht so übel." Wieder dieses shawnige Schulterzucken.

Ich hebe verblüfft meine Augenbrauen. „Gar nicht so übel?"

Er schüttelt den Kopf. „Nein, man merkt es nicht. Es ist wie schlafen. Hab's mir schlimmer vorgestellt. Ich könnte auch glatt noch eine Runde snoozen."

Trotz dieser absurden Situation muss ich lachen und stupse gegen seinen Oberarm. „Du Spinner."

„Selber Spinner." Sein Gesicht wird ernst. „Du fehlst mir ganz schön, kleiner Bruder."

Unwillkürlich schießen mir Tränen in die Augen und ich zwinge meine Mundwinkel nach oben, um nicht loszuheulen. „Du mir auch. Jetzt nervt mich keiner mehr."

Er lacht leicht und wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. „Wie geht's Mom und Dad? Sind ... sind sie okay?"

Ich presse meine Lippen fest aufeinander und nicke. „Ja", antworte ich mit heiserer Stimme. „Sie ... das erste Jahr war echt hart, besonders für Mom. Aber ja, sie sind okay. Auf jeden Fall besser."

Er nickt und lächelt dabei, sein Blick irgendwo ins Leere gerichtet.

„Tat es weh?" Die Frage schießt einfach so aus mir heraus.

Shawmon hebt seinen Kopf und schüttelt ihn. „Nein, es ... es war wie ein Filmriss. Man sieht es kommen und dann war einfach alles weg."

Erleichtert atme ich auf und blicke nach unten, um festzustellen, dass wir uns die ganze Zeit an den Händen halten. „Warum hast du nach Eddie gefragt?", fällt mir seine Frage von vorhin wieder ein.

„Das Letzte, worüber wir geredet haben, war dieser dusselige Hamster, erinnerst du dich?", lacht er. „Du hast ihn immer in dieser Kugel durchs Haus laufen lassen und wolltest ihm Kunststücke beibringen."

Unsere letzte Unterhaltung fällt mir wieder ein. Im Videochat habe ich Shawn, der auf dem College an der Ostküste war, meinen Hamster in seiner Plastikkugel gezeigt und ihm stolz berichtet, wie zahm das flauschige Vieh schon war. Shawn hatte nur gelacht und gemeint, wenn er das nächste Mal zu Hause wäre, würde er mal schauen, wie weit die Kugel mit dem Hamster fliegen könnte, ich solle schon mal das alte Fußballtor im Garten aufbauen.

„Das heißt ... du weißt nicht, dass er tot ist? Sieht man da ... keine anderen?", frage ich leise.

Shawmon – ich kann ihn nicht Shawn nennen, wenn er in Simons Körper neben mir sitzt, das bekommt mein Kopf nicht hin – seufzt. „Nein, es ... es ist einfach wie tief schlafen. Es ist auch nicht–"

„Jo Donovan!", grölt jemand vor der Tür und wir zucken beide hektisch auseinander.

Ich springe auf und schwanke leicht, weil mein Kreislauf mit dem schnellen Aufstehen nicht gerechnet hat. Gerade noch rechtzeitig greife ich nach meinem Handy, das noch immer auf dem Boden liegt und öffne wahllos irgendeine App, um daraufzustarren, als die Tür aufgerissen wird.

Ryan kommt hereingestolpert und lässt sich neben Simon auf den Boden plumpsen. „Jo Mann, was macht ihr denn hier? Sind doch noch irgendwelche Geister aufgetaucht?"

Simon verzieht angewidert sein Gesicht und rückt ein Stück von seinem Kumpel ab. „Der Geist von Tequila auf jeden Fall, Alter", gibt er zurück.

Ryan rülpst und lacht, ehe sein Blick auf mich fällt. „Und der da?"

Ich tue so, als wäre ich so von meinem Handy abgelenkt gewesen, dass ich von den beiden keinerlei Notiz genommen habe. „Was? Ich muss noch meine täglichen Aufgaben bei Genshin Impact machen. Spielt einer von euch das zufällig?"

Simon grinst, doch Ryan verzieht sein Gesicht. „Was für'n Impact? Candy Crush?"

Ich winke ab und gebe vor, mich wieder auf mein Display zu konzentrieren, habe jedoch nicht die Absicht, den Raum zu verlassen, solange sich mein toter Bruder noch in Simons Körper befindet.

„Lass mal abhauen, die Zwillinge haben noch Bier bei sich im Poolhaus", wendet sich Ryan wieder Simon zu. „Die anderen sind schon im Auto."

Ruckartig hebe ich den Kopf und blicke Simon eindringlich an. Vor dem Haus habe ich Ryans Auto gesehen und wenn das bedeuten soll, dass er fährt ...

Panik durchflutet meinen Körper und auch Simons Augen weiten sich für einen Sekundenbruchteil, ehe er sich Ryan zuwendet. „Aber du fährst ganz bestimmt nicht, Mr. Tequila."

Ryan rollt mit den Augen und zerrt seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche. „Die zwei Blocks sind doch ein Klacks."

Blitzschnell schnappt Simon ihm den Schlüssel aus der Hand und verschränkt seine Arme vor der Brust. „Nix da. Ich fahre!"

Ich schlucke schwer, denn mein Mund ist auf einmal staubtrocken. Ich kann ihn doch nicht gehen lassen! Was, wenn der echte Simon aufwacht und Shawn einfach wieder verschwindet?

Ryan rollt mit den Augen und rappelt sich langsam auf. „Aber dann beeil dich. Wir haben Durst!" Er geht zur Tür, dreht sich aber noch einmal um und schaut mich an. „Willst du auch mitkommen oder spielst du lieber Candy Crush?"

Verwundert hebe ich die Augenbrauen. „Ich?"

Ryan nickt. „Kannst ja deine kleine Freundin mitnehmen. Tom steht auf die."

Ich runzle die Stirn. „Wer ist Tom?"

Der Quarterback lacht laut auf, blickt zu Simon und zeigt zustimmend mit dem Finger auf mich. „Siehst du, Alter? Keiner kann diese beiden Trottel auseinanderhalten."

Simon winkt ab und meint: „Warte schon mal unten, wir kommen gleich nach."

Ryan salutiert schwankend und verkrümelt sich aus dem Zimmer, kurz darauf hören wir ihn schon nach unten rufen, dass es gleich losgeht.

Ich schaue mit großen Augen zu Simon und frage vorsichtig: „Bist du noch da?"

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