27 - Das ist natürlich streng vertraulich

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Mein Herz setzt für einen Augenblick aus, um kurz darauf mit dreifacher Geschwindigkeit in meiner Brust weiterzurasen.

Mit großen Augen glotze ich Simon an und weiß zuerst nicht, was ich sagen soll.

Natürlich erinnere ich mich an den Moment, als er – zumindest seine Hülle – mich geküsst hat.

„Wer jetzt?", stelle ich mich dumm und beschäftige mich rasch wieder mit der Liste der Adressen, die mein Vater uns gegeben hat.

„Äh ... du und ich", wispert Simon und seine Finger fummeln aufgeregt am Reißverschluss seiner Jacke herum.

Ich gebe ein unbeholfenes Lachen von mir und zucke mit den Schultern, um mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. „Oh, dann ... sorry?"

Am liebsten würde ich die Beifahrertür aufstoßen und mich einfach nach draußen in die Gosse fallen lassen, um seine Reaktion nicht miterleben zu müssen.

Es ist eine Sache, seit mehreren Jahren heimlich in ihn verschossen zu sein und fast jeden Abend von ihm zu fantasieren, aber eine komplett andere, wenn er davon wüsste. Natürlich male ich mir in meinen Träumen immer aus, dass Simon Donovan schwul oder zumindest bisexuell ist.

Die Wahrheit jedoch ist, dass ich tief in mir drin ahne, dass er eben doch einfach hetero ist und meine heimlichen Wünsche in Bezug auf ihn noch hoffnungloser sind als der Wunsch, dass mein Bruder von den Toten zurückkehrt.

Und die Ironie an diesem Gedanken ist, dass selbst das eher passiert als dass Simon–

„Warum sorry?", fragt er mich und fast stöhne ich schmerzerfüllt auf. Er hat ja keine Ahnung, wie sehr mich dieses Thema quält.

„Wol-Wollen wir schon mal los?", versuche ich abzulenken und tippe mit dem Zeigefinger auf die Liste. „Wir sollten vielleicht ... äh ... in der Chancery Lane anfangen und uns dann von Ost nach West durcharbeiten."

Simon nickt ergeben und startet das Auto, während ich unauffällig erleichtert ausatme, weil mein Ablenkungsmanöver offensichtlich funktioniert hat.

•••

„Familie Adams", lese ich vor, als wir vor dem unscheinbaren Mehrfamilienhaus halten. „Alle bekommen eine Packung von allem, was wir mithaben."

Simon klettert aus dem Auto und noch bevor ich ihm zur Hand gehen kann, hat er schon Nudeln, Reis und Konserven in einer der bereitgestellten Plastikkisten platziert und blickt mich auffordernd an. „Du klingelst, ich trage?"

„Wir können uns ja abwechseln", schlage ich vor, doch er trägt die Kiste bereits mühelos zur Haustür, wo er auf mich wartet.

Natürlich wechseln wir uns nicht ab. An jeder Adresse ist Simon so schnell dabei, die Lebensmittel zu tragen, dass ich kaum eine Chance habe, selbst unbepackt hinterherzukommen.

Vielleicht sieht er das Ganze hier auch als willkommenes Training?

Beinahe fühle ich mich ein bisschen überflüssig, denn ich mache nichts als Adressen und Namen vorlesen und Klingelknöpfe drücken, während er den schweren Teil der Arbeit macht, obwohl es ihm nichts auszumachen scheint.

Selbst das Reden übernimmt er und erobert mit seinem Charme im Handumdrehen die Herzen der Leute, denen wir die Kisten bringen.

Jetzt stehen wir wartend an einer roten Ampel und ich studiere die Liste, auf der nur noch ein paar Namen stehen.

„Oh", gebe ich überrascht von mir, denn ein Name auf der Liste kommt mir tatsächlich bekannt vor.

„Was denn?", erkundigt sich Simon, seine Finger trommeln auf dem Lenkrad.

Ich kaue nervös auf meiner Unterlippe. „Wir müssen auch bei Glorias Familie vorbei."

Simons Augenbrauen heben sich überrascht und er beugt sich zu mir herüber, um auf die Liste zu schielen. „Wow, du hast recht."

Schnell falte ich den Zettel zusammen und halte ihn zwischen meinen Händen. „Das ... das ist natürlich streng vertraulich."

Er nickt neben mir und fährt langsam weiter, als die Ampel auf grün umschaltet. „Ist ... ist das immer so?"

„Dass Leute aus der Schule draufstehen, meinst du?" Ich schüttle den Kopf. „Ich hab meinen Dad noch nicht oft begleitet, aber wenn, kam das nicht vor. Vielleicht hat er es dieses Mal übersehen. Ich könnte mir vorstellen, dass er mich bewusst darüber im Unklaren gelassen hat."

„Hm", macht Simon nachdenklich und lenkt uns weiter sicher durch die Straßen.

„Du wirst doch nichts sagen, oder?", hake ich nach und zucke erschrocken zusammen, als er vollkommen unangekündigt an den rechten Fahrbahnrand auf einen Parkplatz fährt und das Auto ausschaltet.

„Ich werde ganz bestimmt nichts sagen", erklärt er ernst. „Was ist mit dir?"

Verwirrt runzle ich die Stirn. „Was soll mit mir sein?"

„Wirst du etwas sagen?"

„Zu Gloria? Um Gottes Willen nein!"

Er atmet tief durch. „Und zu den anderen?"

Ich schüttle entschlossen den Kopf. „Natürlich nicht! Es geht niemanden etwas an und falls es dir entgangen sein sollte, bin ich selbst ein Teenager. Ich weiß, wie beschissen oberflächlich die meisten sind."

Simons Hände fahren durch seine kurzen, braunen Haare und er räuspert sich. „Findest du ... findest du es schlimm?"

„Dass viele so oberflächlich sind?" Ich schnaube. „Ja, finde ich."

Er rollt mit seinen blau-grünen Augen. „Das mit Gloria meine ich."

Verwundert ziehe ich die Augenbrauen zusammen. „Sie kann höchstwahrscheinlich nichts dafür. Also nein. Und selbst wenn sie etwas dafür könnte, ginge es mich nichts an. Ich würde ihr gern helfen, wenn ich wüsste wie. Also ... mehr als nur mit ein paar Nudeln und Konservendosen."

Simon betrachtet mich lange und ich bin kurz davor, mir meine Kapuze über mein Gesicht zu ziehen, weil es mir unangenehm ist, dass er mich so intensiv ansieht.

„Warum hast du dich vorhin entschuldigt?", platzt er heraus und ich schlucke schwer.

Natürlich weiß ich sofort, was er meint.

„Ähm ... naja ..." Die Option mit meiner Kapuze erscheint mir immer verführerischer. „Es muss vermutlich komisch für dich gewesen sein, zu träumen, dass ein Junge dich küsst." Mein Gesicht fühlt sich so heiß an, dass ich unwillkürlich das Bild von einem Feuerlöscher in meinem Kopf habe, denn genau so einem ähnle ich wahrscheinlich.

„Für dich nicht?", fragt er zurück und ich verspüre einen unbändigen Todeswunsch.

Das kann er unmöglich ernst meinen!

„Nun ... äh ..." Hilflos fummle ich an der Liste herum, deren Ränder nun inzwischen schon etwas feucht und eingerissen von meinen schwitzigen Fingern sind. „Ich ... ich bin schwul", wispere ich kaum hörbar.

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