17 - Du wirst jetzt sehr stark sein müssen

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Ich verschränke die Arme vor der Brust und betrachte Simon, der noch immer als Hülle für meinen toten Bruder dient, skeptisch.

„Dad!", ruft er und schlägt sich sogleich die Hand vor den Mund, als ihm einfällt, dass er ja heimlich in mein Zimmer geklettert ist und eine Begegnung mit unseren Eltern um jeden Preis verhindern will.

Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen. „Dad?"

„Dad kennt doch bestimmt jemandem, der Simons Vater einen Job besorgen kann", redet er aufgeregt, aber nun im Flüsterton, weiter.

Ich räuspere mich. „Shawn, Dad ist Sozialarbeiter. Das hat für mein Verständnis nicht wirklich viel mit Immobilien zu tun."

Er presst die Lippen fest aufeinander und starrt mich einen Moment lang an. „Das hat Kartoffelernte auch nicht, das kannst du mir glauben."

Shit, er hat einen Punkt. Anscheinend ist Simons Vater inzwischen so verzweifelt, dass er wahrscheinlich jeden Job annehmen würde, solange er nur wieder ein regelmäßiges Einkommen hat und sein Geheimnis nicht vor der gesamten Stadt enthüllt wird.

„Aber wie soll ich das machen?", wende ich ein. „Ich kann doch nicht einfach zu Dad gehen und ihn fragen, ob er was von einer freien Stelle für einen ehemaligen Immobilienmakler weiß. Der wird sich doch wundern, warum ich ihn sowas aus heiterem Himmel frage. Und soll er dann zu Simons Dad gehen und ihm einfach sagen, dass er den Job hat? Der weiß doch auch von nichts."

Shawmon kratzt sich nachdenklich den Kopf.

„Und Shawn?", füge ich hinzu. „Mir ist noch was anderes eingefallen, worüber wir uns Gedanken machen müssen." Ich betrachte ihn ernst.

Er blickt mich fragend an. „Was denn?"

„Was ist mit Simon, wenn er wieder ... aufwacht?"

Er seufzt. „Eric, wir haben jetzt schon mehr Zeit geschenkt bekommen, als uns eigentlich vergönnt war. Es wird schwer, aber ..."

Ich unterbreche ihn, indem ich die Hände hebe. „Nein, das ... das weiß ich. Aber ich meine ... hm ... wie erklären wir ... oder irgendjemand ... Simon die fehlenden ..." Ich schaue auf den Radiowecker auf meinem Nachttisch. „Vierundzwanzig Stunden sind es nun schon fast."

Entsetzt reißt er die Augen auf, denn offensichtlich hatte er sich darüber noch keine Gedanken gemacht.

Um ehrlich zu sein, kam mir der Einfall auch gerade erst, als ich darüber nachdachte, wie es Simon wohl gehen wird, wenn er wieder in seinen Körper zurückkehrt und sein Vater plötzlich aus heiterem Himmel einen neuen Job hat – vorausgesetzt, Shawns und mein Plan, der noch keiner ist, geht auf.

Für Simon hörte alles mit dieser verrückten Geisterbeschwörung auf und je länger Shawn in seinem Körper bleibt und seine Rolle spielt, umso schwerer wird es sein, das hinterher logisch zu erklären.

„Fuck!", fasst Shawmon meine Gedankengänge in einem einzigen Wort zusammen und ich kann lediglich zustimmend nicken.

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Eine Weile sitzen wir beide nur so da, er fährt sich immer wieder mit den Händen durch die kurzen, braunen Haare, bis er schließlich den Kopf hebt und mich anschaut. „Ich überlege mir was, okay?"

Ich bin kurz davor, ihn zu schütteln und anzuschreien, was er sich denn überlegen will, aber da mir selbst keine bessere Lösung einfallen will und er immer noch mein großer Bruder ist, der mir stets geholfen hat, wenn ich in der Patsche saß, beschließe ich, ihm einfach zu vertrauen und nicke lediglich.

Shawmon reibt sich mit der Hand über den Nacken und zeigt auf mein Bett. „Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber meinst du, wir können einfach rumlungern und einen Film gucken oder so?"

Früher haben wir das abends öfter gemacht, wenn Mom und Dad im Wohnzimmer langweilige Erwachsenensachen wie Nachrichten geschaut haben. Dann bin ich zu Shawn ins Zimmer geschlichen und habe ihn angefleht, dass wir auf seinem Fernseher coole Serien oder Filme gucken. Wir lagen auf seinem Bett und haben gemeinsam die Dialoge der Avengers-Filme mitgesprochen und einfach nie jemandem davon erzählt.

Unwillkürlich kehrt der traurige Schmerz in meinen Brustkorb zurück und ich zwinge mir ein Lächeln auf mein Gesicht. „Du wirst jetzt sehr stark sein müssen", verkünde ich und hole mein Tablet von meinem Schreibtisch.

Neugierig beobachtet er, wie ich zielsicher eine Film-App aufrufe. „Warum? Kann man die Avengers nicht mehr schauen?"

„Doch, aber ..." Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Es gibt einen weiteren Teil von Dr. Strange und einen vierten Thor."

Shawmon reißt verblüfft die Augen auf und springt förmlich auf, um sich sogleich auf mein Bett fallen zu lassen. „Fuck, ich hoffe, dieser Junge lässt mir zumindest noch diese drei Stunden, bevor er aufwacht."

•••

Letztlich sind es fast vier Stunden, die wir liegend und lachend auf meinem Bett verbringen und obwohl es Simon Donovans Körper ist, der neben mir liegt, fühlt es sich genauso vertraut nach Shawn an wie früher.

Der Blick auf meinen Radiowecker verrät mir, dass es inzwischen nach Mitternacht ist und mir wird bewusst, dass ich die gemeinsame Zeit nicht länger ausdehnen kann.

Shawmon rollt sich von meinem Bett und streckt sich ächzend, sein Gesichtsausdruck noch immer amüsiert über den Film, den wir zuletzt geschaut haben.

„Also", sagt er schließlich, seine blau-grünen Augen aufmerksam auf mich gerichtet. „Lass dich umarmen, kleiner Bruder. Einfach nur auf Nummer sicher, okay?"

Ohne zu zögern stürze ich zu ihm und schlinge meine Arme um seine Taille, mein Kopf ruht auf seiner Schulter. „Ich will nicht, dass du gehst", nuschle ich.

Seine Hände streicheln beruhigend über meinen Rücken. „Ich weiß", seufzt er. „Ich bin froh, dass ihr alle okay seid. Ich hab dich so lieb, Eric."

Leise schniefe ich und drücke mein Gesicht in den Stoff seines Hoodies, damit die Tränen, die aus meinen Augen quellen, aufgesogen werden. „Ich dich auch, Shawn." Ich löse mich widerwillig von ihm und blicke ihn fragend an. „Wenn ... wenn du morgen immer noch da bist, schreibst du mir?"

Auf seinen fest zusammengepressten Lippen erscheint ein Lächeln und er nickt.

„Okay", murmle ich heiser, lasse ihn jedoch nicht los.

Erst als er mich sanft von sich drückt und seine Hand für einen Moment an meine Wange legt, löse ich meinen Griff, meine Arme hängen schlaff herunter.

Langsam geht er zu meinem Fenster, öffnet es und steigt nach draußen.

Ich blicke ihm nach, unfähig mich zu bewegen.

Ein letztes Mal steckt er seinen Kopf zum Fenster herein und lächelt mir zu. „Mach's gut, Eric."

Das Fenster wird zugezogen, ich höre leise Schritte auf dem Vordach, ein etwas lauteres Rumsen, als er herunterspringt und dann ist es still.

Still und leer.

Und ich sacke zusammen und breche in Tränen aus, weil ich in meinem Herzen weiß, dass ich gerade erneut meinen großen Bruder verloren habe.

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