1. Kapitel

14 4 0
                                    

Willow Jane Osborn

"Du siehst zauberhaft aus", sagte Harper und schloss mich in die Arme. Ich trug ein dunkelgrünes Kleid mit einem Rock, der sich unglaublich schön bewegte, wenn man sich im Kreis drehte. Meine Haare fielen mir in leichten Locken über die Schultern und die oberste Schicht war mit einem Seidenband nach hinten gebunden. Dazu noch schwarze Lederschuhe, die leicht glänzten.

Ich lächelte leicht. Mehr ließ die Aufregung, die in meinem Inneren tobte nicht zu. Genau wie letztes Jahr, als die Ernte anstand, war ich zum Zerplatzen aufgeregt. Und diesmal konnten mich Harpers Worte nicht beruhigen, denn letztes Jahr war sie gewählt worden, obwohl die Wahrscheinlich so klein gewesen war. Ihre Worte von wegen 'dein Name ist nur zweimal in der Lostrommel', machten mich also nur noch nervöser.

Das Einzige, was die Spannung etwas von mir nahm, war ihre Hand, die meine fest umschlossen hielt. Den ganzen Weg, bis zum Justitzgebäude.

Etwas später stand ich auf dem Platz vor dem Justizgebäude neben den anderen 13-jährigen. Harper musste nicht mehr an der Auslosung teilnehmen, da sie letztes Jahr gewonnen hatte. Sie stand jetzt bei den Leuten, die älter als 18 Jahre alt waren.

Wäre ich doch schon 18 Jahre alt.

Es kam mir so vor, als würde ich fürchterlich zittern, weil ich so aufgeregt und angespannt war, aber eigentlich stand ich vollkommen starr da. Mein Herz pochte wie wild gegen meine Brust, bloß meine Hände bebten leicht.

Als Schritte von der Bühne zu mir klangen, hob ich meinen Blick und sah zu der Dame vom Kapitol hoch. Sie war geschmückt in einem Gemisch aus allerlei Farben, auch über ihren Augen schimmerte es in allen Regenbogenfarben. Ihre Haut war fast komplett weiß geschminkt. Ich konnte nicht nachvollziehen, was sie daran so toll fand.

"Willkommen, willkommen, zu der Auslosung der 51. Hungerspiele", begann sie mit heller Stimme, "heute werden ein mutiger junger Mann und eine mutige junge Frau dazu auserwählt, an den alljährigen Hungerspielen teilzunehmen" Sie setzte ein künstliches Lächeln auf.

Es folgte der alljährige Film, der einfach nur schrecklich anzusehen war. Erst wurde der Krieg gezeigt, viele Tote und schliesslich die Rettung. Das Kapitol erschuf die Hungerspiele und rettete somit ganz Panem vor dem Untergang. Naja, ob das tatsächlich wahr war, ist die Frage, die sich jeder selbst stellen musste. Ich für meinen Teil, fand, dass das alles Unsinn war.

"Wie immer, Ladies first", sagte die Moderatorin schliesslich und ging zu einer der beiden Lostrommeln hin. Ihre behandschuhte Hand verschwand quälend langsam zwischen den Zetteln und es dauerte gefühlte Stunden, bis sie soweit war, den Namen vorzulesen. "Der weibliche Tribut ist", sie machte eine spannungsvolle Pause und grinste provokant, "Willow Osborn"

Ich zuckte unmerklich zusammen und spulte in Gedanken das Geschehene noch einmal zurück. Sie hatte meinen Namen gesagt, meinen. Nein, dass konnte nicht sein. Oder doch?

Völlig durch den Wind lief ich zur Bühne. Alles in mir sträubte sich dagegen, aber ich hatte keine Wahl. Ich konnte hören, wie Harper meinen Namen sagte und weinerlich aufschluchzte. Mir selbst war auch zum Heulen zu mute, aber ich unterdrückte den Drang so gut wie möglich.

"Bin ich richtig der Annahme, dass du die Schwester von Harper Thea Osborn bist?", fragte die aufgebrezelte Dame neugierig. Ich nickte. "Einzigartig!", jauchzte sich gerührt.

Ich wusste nicht, was daran so einzigartig war. Sie sagte es so, als könnte ich mich geehrt fühlen, aber ich fühlte genau das Gegenteil. Mich erfüllte absolute Hilflosigkeit und Angst. Wie bitteschön sollte ich als 13-jährige die Spiele überleben? Ich werde wahrscheinlich als erste sterben, gerade beim Füllhorn.

"Kommen wir zu dem männlichen Tribut", sagte sie und zog einen Zettel hervor. Diesmal kam es mir nicht halb so langsam vor. "Rune Harmon", rief sie aus und kurz darauf löste sich ein dunkelhaariger Junge aus der Menge. Zum Glück kannte ich ihn nicht, das wäre noch schlimmer gewesen. Als er auf der Bühne angekommen war, wurden wir dazu aufgehalten uns die Hand zu reichen.

Nachdem die Moderatorin noch ein paar Worte gesagt hatte, wurden wir umringt von Friedenswächter von der Bühne in das Justizgebäude geführt.

Wir ließen die Bühne hinter uns und die Friedenswächter schoben mich unnachgiebig in ein Zimmer, indem ein Sofa, ein Tisch und noch einige andere Dinge standen. Alles war aus glattem, dunklem Holz. Die Polster des Sofas, auf das ich mich kraftlos hatte sinken lassen, war dunkelblau, genau wie der Stoff der Vorhänge.

Harper stürmte mit Tränen im Gesicht durch die Tür, die sich vor weniger als einer Sekunde geöffnet hatte, und schloss mich in ihre Arme. Das war der Moment, in dem auch ich begann zu weinen. Vielleicht war dies das letzte mal, dass ich meine Schwester in die Arme schließen konnte und meinen Vater würde ich wahrscheinlich nie mehr wieder sehen, da er wegen seiner Arbeit am Hafen nicht zur Ernte hatte kommen können.

Diese Gedanken waren schrecklich und brachten mich dazu noch stärker zu weinen, deshalb verbannte ich sie aus meinem Kopf.

"Leb wohl, Harper", sagte ich mit belegter Stimme und blickte meiner älteren Schwester in die feuchten Augen.

"Sag sowas nicht, du wirst wieder kommen", erwiderte Harper mit zuversichtlicher Stimme, auch wenn der Ausdruck in ihrem Gesicht etwas völlig anderes sagte. "Ich habe es auch geschafft und du kannst es auch"

"Ich bin doch nur 13 Jahre alt, wie will ich gegen die Älteren ankommen. Ich kann ja nicht einmal kämpfen"

"Du musst Verbündete suchen, dann kannst du es schaffen", sagte Harper und drückte mich noch einmal fest.

Dann war unsere Zeit auch schon um und die Friedenswächter führten Harper aus dem Zimmer. Sie rief mir noch etwas zu, aber ihre Worte verloren sich hinter der geschlossenen Tür.

Eine Weile saß ich noch allein in dem Zimmer, aber dann kamen die Friedenswächter wieder und führten mich aus dem Raum. Wir liefen durch einige Gänge, durchquerten einige Türe und stiegen zum Schluss noch eine Treppe hinab. Dann standen wir vor der gigantischen Magnetbahn, die uns zum Kapitol bringen würde.

Im Zug angekommen, verkroch ich mich in meinem Abteil mit dem Ziel, es nie wieder zu verlassen. Wenigstens bis wir im Kapitol angekommen waren.

Mein Plan scheiterte schon nach wenigen Minuten, denn Irma Walters, so hieß die Moderatorin, klopfte an die Tür und bat mich, in den Hauptwagen zu kommen. Also wühlte ich mich aus dem riesigen Bett und zog mir etwas schlichtes über.

Gemächlich ging ich zum Hauptabteil. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht auf. An dem mit Essen überhäuften Tisch saß Harper, die jetzt aufstand und in meine Richtung sprang. Ich genoss es in ihren Armen zu liegen.

"Was machst du hier?", fragte ich schrill.

"Ich bin deine Mentorin", antwortete sie und drückte mich noch einmal fest, bevor sie mich losließ.

"Ich bin so froh, dass du hier bist", sagte ich.

Truth Rising | Die 51. HungerspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt