10. Kapitel

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Willow Jane Osborn

Heute war das Training nur bis zum Mittag gegangen, da am Nachmittag das Einzeltraining stattfand. Ich kümmerte mich herzlich wenig darum, denn egal ob ich eine gute oder eine schlechte Punktzahl erreichen würde, die Spielmacher würden mich trotzdem loswerden wollen. Sie würden mich wohl kaum am Leben lassen, nur weil ich eine gute Punktzahl hatte. Nein, so lief das nicht.

Nach dem Mittagessen und einer halben Stunde Pause begaben Rune und ich uns in Begleitung von Harper, die mir immer wieder besorgte Blicke zuwarf, ins Trainingscenter, wo wir warteten, bis wir an der Reihen waren.

Ich setzte mich auf die metallene Bank und lehnte gegen die kühle Steinwand. Für einen Moment schloss ich die Augen und atmete tief ein und aus, um mich ein wenig von meinen Gedanken abzulenken. Doch es war sinnlos. Wie konnte ich nicht an das denken, was ich gehört hatte?

Das Mädchen aus Distrikt 2 wurde aufgerufen, erhob sich von ihrer Bank. Sie warf die weissblonden Haare nach hinten und rauschte mit erhobenem Haupt davon aus dem Raum in Richtung der Halle, wo das Einzeltraining stattfand.

Um meine Gedanken ein wenig zu trimmen, überlegte ich mir, was ich den Spielmachern – verdammt, die Spielmacher, die wollten mich ja tot sehen – zeigen würde.

Ich würde eindeutig zeigen, wie ich mit dem Pfeilbogen umgehen konnte. Dann würde ich vielleicht noch eine Wand hochklettern oder ein paar Wunden verarzten. Zu mehr hätte ich wahrscheinlich keine Zeit, da uns nicht mehr als zehn Minuten zur Verfügung standen.

«Alles okay, Will?», fragte Harper mit gedämpfter Stimme. Sie nahm meine Hand und drückte sie sanft.

Ich fuhr herum. «Wie? Was?», fragte ich etwas verwirrt, «Ähm, ja, alles okay» Mein Blick traf ihren, doch ich konnte es nicht ertragen ihr in die Augen zu sehen. Ich konnte es nicht ertragen, dass sie meinetwegen so besorgt war. Doch ich wusste, wie sie sich fühlen musste – wahrscheinlich noch schlimmer als ich mich letztes Jahr gefühlt hatte.

Harper schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und sah mich mitleidig an. Dann wandte sie sich ab und starrte an die Wand gegenüber.

«Willow Jane Osborn», sagte die Lautsprecherstimme nach einigen Minuten. Ich erhob mich und warf Harper noch einen Blick zu, bevor ich um die Ecke verschwand und die Halle betrat, wo die Spielmacher auf mich warteten. Ich blieb direkt vor ihnen stehen.

«Willow Osborn, Distrikt 4», sagte ich mit möglichst fester Stimme und musterte die Spielmacher. Der Mann, den ich belauscht hatte, war nicht dabei. Gut so.

Mit schnellen Schritten ging ich zu der Halterung, auf der Pfeile und mehrere Bogen in verschiedenen Grössen angebracht waren. Ich nahm mir drei Pfeile und einen etwas kleineren Bogen. Er war auf dunklem Metall, das im weissen Licht der Deckenlampe schimmerte.

Ich stand vor die Scheibe, legte vorsichtig einen Pfeil ein und nahm mein Ziel ins Visier. Vollkommen regungslos stand ich da, und dann, im genau richtigen Moment, schoss ich den Pfeil ab. Mit einem Zischen flog er durch die Luft, dann steckte er im innersten Ring der Zielscheibe.

Beim zweiten Mal schoss ich die beiden Pfeile so schnell wie möglich nacheinander. Ich brauchte dafür nur wenige Sekunden. Jedoch trafen sie lediglich den zweit innersten Ring.

Ich liess die Station hinter mir und ging in gemächlichem Tempo zu einer Kletterwand. Ich setzte den Fuss an, dann arbeitete ich mich Schritt für Schritt die Wand hoch. Man musste sich nur genug Zeit lassen, dann konnte nicht wirklich etwas passieren.

Als ich oben angekommen war, setzte ich mich für einen Moment auf die Kante, um zu verschnaufen, aber dann machte ich mich daran, wieder nach unten zu klettern.

Ich hätte bestimmt noch mehr Zeit gehabt, doch ich hielt es nicht für nötig noch etwas anderes zu zeigen. Deshalb verabschiedete ich mich von den Spielmachern und verliess die Halle.

Am Abend sassen wir – Irina, Filius, Harper, Rune und ich – auf der Couch in unserem Appartement und warteten die Resultate der Einzeltrainings ab. Ich war nicht sonderlich aufgeregt, denn meine Punktzahl würde keinen Einfluss auf meine Gewinnchancen haben. Ebenso wenig interessierte ich mich für Sponsoren.

«Ihr habt bestimmt wunderbare Ergebnisse», säuselte Irina und rieb aufgeregt ihre Hände aneinander.

Ich lauschte nur mit halbem Ohr, wie der Moderator die Punktzahlen der anderen Distrikte aufzählte. Ich bekam nur mit, dass die Karrieros keine Punktzahl unter 9 Punkten hatten.

«Kommen wir zu Distrikt 4», sagte der Moderator. Alle im Raum schienen den Atem anzuhalten – ausser natürlich mir. «Willow Jane Osborn erreicht eine Punktzahl von 8»

«Grossartig» macht Irma und klatscht fröhlich in die Hände. Sie hält aber gleich wieder inne, als der Moderator weiterredet.

«Und Rune Harmon erreicht unfassbare», sagte er und machte eine spannungsvolle Pause, «12 Punkte!»

«Unfassbar!», jauchzte Irma und stand auf, um mir und vor allem Rune zu gratulieren. Ich war erstaunt, dass Rune eine so hohe Punktzahl erreicht hatte. Nicht, dass ich sagen würde, er wäre nicht gut, aber 12 Punkte waren so unwahrscheinlich, dass nicht einmal die Karrieros es schafften.

Alle lachten, nur Harper und ich trugen ernste Mienen auf dem Gesicht. Wir warfen uns einen Blick zu und ich wusste, dass wir aus demselben Grund nicht lachten. Die vergangenen Ereignisse waren einfach zu schwer zu verdauen.

Truth Rising | Die 51. HungerspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt