Willow Jane Osborn
Ich hatte keine Ahnung wo ich war und ich wusste auch nicht, in welche Richtung ich eigentlich gehen wollte. Es wunderte mich, dass meine Beine mich überhaupt noch trugen. Völlig aufgelöst irrte ich in der Arena umher, lief einfach immer weiter, um von diesem Ort fortzukommen.
Dieser Ort. Damit meinte ich nicht die Arena, obwohl ich auch liebend gern von hier verschwinden würde. Nein, mir war klar, dass ich nicht aus der Arena entkommen würde. Ich meinte den Ort, an dem auch mein letzter Funken Hoffnung lebend aus dieser Arena zu kommen erloschen ist, an dem ich die einzige Freundin verloren hatte, die ich in dieser Arena je hatte.
Ich verdrängte den Gedanken an sie sofort, da ich schon wieder fühlte, wie neue Tränen in mir hochkamen. Ich blinzelte wiederholt, um die schrecklichen Bilder aus meinem Kopf zu verbannen.
Ich ging weiter, immer weiter. Ich nahm keine Rücksicht auf meine Umgebung, was dazu führte, dass ich mehrmals stolperte und auf die Knie fiel oder einem Dornenzweig nicht auswich, der direkt vor mir baumelte. Ich nahm die Schmerzen kaum wahr, denn ich fühlte mich benommen. So, als wäre ich betäubt worden. Genauso, wie ich mich kurz vor dem Beginn der Spiele gefühlt hatte, als ich beim Interview betäubt worden war. Doch dieser Moment schien eine halbe Ewigkeit her zu sein.
Meine dumpfen Schritte hallten tausendfach in meinem Kopf wieder. Die Bäume schienen vor meinen Augen zu verschwimmen. Ich merkte gar nicht, dass es an den Tränen lag, die sich in meinen Augen angesammelt hatten und nun über meine Wangen flossen.
Auf einmal blieb ich wie erstarrt stehen. Mein Blick verharrte auf dem Mädchen, das so plötzlich vor mir aufgetaucht war, dass ich es erst gar nicht bemerkt hatte.
Mein Atem beschleunigte sich und alles in mir krampfte sich zusammen. Einen Moment später sank ich auf die Knie, mein Blick noch immer auf das Mädchen vor mir gerichtet, in dessen Hand sich ein Messer befand.
«Tu es einfach, ich weiss, dass du mich töten möchtest», brachte ich stockend hervor, «Aber ich habe es satt mich zu wehren, ich habe es satt weiterzukämpfen, denn es ist sinnlos, hörst du?»
Nichts geschah. Das Mädchen vor mir rührte sich nicht, doch ihre Hand, in der sie das Messer hielt, begann haltlos zu zittern. Mit unsicherem Blick betrachtete sie mich von oben bis unten.
«Na los!», rief ich, «Töte mich, damit das alles ein Ende hat. Töte mich, damit ich endlich dieser Hölle entkomme»
Ich richtete meinen Blick wieder auf das Mädchen vor mir. Vergeblich versuchte ich die Tränen zu unterdrücken. Egal wie sehr ich es versuchte, sie waren einfach nicht aufzuhalten.
Die Hand des Mädchen zitterte noch immer, doch dann liess sie das Messer zu Boden fallen. Verwundert folgte mein Blick der Waffe, die nun im hohen Gras lag. Ich hob den Blick wieder und starrte das Mädchen an, konnte nicht verarbeiten, was gerade vorgefallen war. In meinem Gehirn schienen die aufgenommenen Informationen einfach keinen Sinn zu ergeben.
«Töte mich, bitte!», flehte ich, «Ich möchte keinen Moment länger in diesem Albtraum verbringen, also töte mich einfach. Bitte!» Meine Stimme war vor lauter Schluchzer gar nicht mehr zu verstehen. Dennoch weiteten sich die Augen des Mädchens, als sie verstand, was ich eben gesagt hatte. Sie schüttelte heftig den Kopf und ihre Augen glitzerten feucht.
«Ich habe nicht vor dich zu töten», sagte das Mädchen ganz vorsichtig. Sie sah mich mit grossen Augen mitleidig an.
«Was?», fragte ich ungläubig und hob meinen Blick vom Boden, um sie anzusehen. Ihre Miene zeigte keine Anzeichen einer Lüge. «Warum nicht? Du möchtest doch aus dieser Arena, oder nicht?»
«Ja, aber ich möchte keine unschuldigen Menschen töten. Auch nicht, wenn es mein Tod bedeuten sollte» Sie streckte mir eine Hand hin und sah mich mit ehrlichen Augen an. «Wir können uns verbünden und uns gegenseitig helfen»
Ich starrte sie perplex an. Ich hatte die Informationen noch immer nicht ganz verarbeitet, da es einfach zu viel auf einmal war. Ausserdem wusste ich nicht, ob ich ihr vertrauen konnte. Schliesslich warf ich alle Bedenken über Bord, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und griff nach ihrer Hand, um mich auf die Füsse ziehen zu lassen.
«Geht es dir gut?», fragte das Mädchen und sah mich mit grossen Augen an, «Du siehst nämlich nicht so aus. Nicht, dass das zu erwarten wäre – du bist schliesslich in der Arena der Hungerspiele...»
Ich schniefte. «Naja...es ist nur gerade ein wenig zu viel auf einmal», begann ich und brach ab. Erneut schniefte ich.
Das fremde Mädchen legte mir einen Arm um die Schulter. «Du kannst mir davon erzählen, wenn du möchtest...du kannst aber auch still bleiben, wenn du nicht reden möchtest»
«Danke», sagte ich mit belegter Stimme.
«Ich bin übrigens Megan», stellte sie sich vor.
«Willow», erwiderte ich und blickte sie von der Seite an. Sie lächelte, als ich ihr meinen Namen sagte.
«Weiss ich doch», bemerkte sie, «Ganz Panem kennt die Schwester von der Gewinnerin der 50. Hungerspiele»
«Du sagst es...ich wünschte, keiner würde mich kennen...», sagte ich. «Alle erwarten etwas von mir, dabei bin ich doch nur ein 13-jähriges Mädchen. Ich bin erst 13. In diesem Alter sollte man nicht um sein Leben kämpfen müssen und man sollte auch nicht auf der Abschussliste der Regierung stehen...»
Ich liess mich auf die Knie sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Es war mir egal, dass jeder mir zusah, es war mir egal, was man von mir denken könnte. Ich wollte einfach alles loswerden, was mich im Moment beschäftigte.
«Ich habe dieses Schicksal nicht verdient. Ich habe es nicht verdient zu sterben, nur, weil das Kapitol einen Fehler gemacht hat. Und ich habe es auch nicht verdient, die einzige Freundin zu verlieren, die ich in dieser verdammten Arena hatte. Ich-« Weiter kam ich nicht, da ein Schwall aus Tränen und Schluchzern mich überrannte. Im nächsten Moment spürte ich eine wohlige Wärme um mich, die mich tröstend umschloss. Als ich die Augen öffnete bemerkte ich, dass es Megan war, die mich fest in die Arme geschlossen hatte.
«Ich verstehe zwar nichts von dem, was du mir gerade erzählt hast...aber ich bin davon überzeugt, dass du etwas so viel besseres verdient hast»
«Danke», flüsterte ich und liess mein Kopf auf MegansSchulter sinken.
Es verging eine Weile, in der Nova mich einfach nur im Arm hielt. Doch schliesslich versiegten die Tränen und ich erhob mich wieder.
Ich griff nach Megans Hand, da ich mich so sicherer fühlte. Hand in Hand verschwanden wir in der Dunkelheit der Nacht, die die Arena überfallen hatte.
DU LIEST GERADE
Truth Rising | Die 51. Hungerspiele
FanfictionTeil 2 ᯽᯽᯽ »Warum sagen alle, dass man ehrlich sein soll, wenn man später dafür umgebracht wird, die Wahrheit aussprechen zu wollen?« Nur ein Jahr, nachdem Harper Thea Osborn zur Gewinnerin der 50. Hungerspiele gekürt wurde, trifft ein Schlag des Sc...