6. Kapitel

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Willow Jane Osborn

Ich übte mehrere Stunden an der Bogenschiess-Station und mit jedem Schuss wurde ich sicherer. Ich wechselte auch den Abstand, ging ab und zu näher ran, dann wieder weiter weg. Dann schoss ich von rechts und später von links.

Als ich versuchte einen Pfeil zu schießen, während ich lief, verfehlte ich die Scheibe um Einiges. Trotzdem war ich mit meiner heutigen Leistung sehr zufrieden.

Ich war der Meinung, dass ich erst einmal genug geübt hatte. Morgen war schließlich auch noch ein Tag. Also verließ ich diese Station und suchte mir eine andere. Mit gemächlichen Schritten ging ich durch die große Halle.

Bei der Schwert-Station standen die Karrieros und unterhielten sich lautstark. Bei ihnen standen auch noch zwei andere Tribute, die wohl gut genug waren, um in ihr Bündnis aufgenommen zu werden. Wenn man es genau nahm, war ich auch ein Karriero. Zumindest war Distrikt 4 ein Karriere-Distrikt. Aber die Karrieros würden mich wohl nicht akzeptieren. Ich war einfach zu nutzlos.

«Hey, Mädchen aus 4», rief auf einmal ein blondes Mädchen aus der Gruppe der Karrieros.

Ich beschleunigte mein Tempo, da ich nicht mit ihnen sprechen wollte. Sie würden eh nichts Nettes über mich zu sagen haben.

«Willst du dich mit uns verbünden?», fragte einer der Jungs.

Ich blieb abrupt stehen und fuhr zu ihnen herum. Alle sechs Tribute schauten erwartungsvoll in meine Richtung und ich fühlte mich auf einmal beobachtet. Völlig perplex starrte ich zurück und konnte nicht glauben, was sie gerade gefragt hatten.

«Ihr wollt euch mit mir verbünden?», sagte ich fragend und ging die paar Schritte wieder zurück, sodass ich nun direkt neben ihnen stand.

«Aber natürlich», sagte das blonde Mädchen.

«Schließlich bist du aus Distrikt 4», bemerkte einer der Jungen.

«Und die Schwester von Harper Thea Osborn», fügte das Mädchen mit den weissblonden Haaren hinzu. Sie sah bedrohlich aus, da ihre Haare und ihre Haut unnatürlich hell waren. Auch ihre Augen leuchteten stechend eisblau. Ein Schauder lief mir über den Rücken als sie mich ansah und dabei lächelte.

«Wenn das so ist», antwortete ich. Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen. «Ich bin dabei»

«Großartig!», sagte die Weißblonde, «Ich bin Beverly»

«Und ich bin Harmony Bridges», erklärte das andere Mädchen und hielt mir ihre Hand hin. Etwas überrumpelt schüttelte ich sie.

Die anderen vier stellten sich auch noch vor. Der Größte Junge hieß Titan Wayne und ich konnte glücklich um ein Bündnis mit ihm sein, denn er könnte mich ohne weitere Probleme zwischen seinen Fingern zermalmen. Der braunhaarige, ebenfalls muskulöse Junge hieß Nuray Collister. Er war ein fabelhafter Kämpfer, den Gewinn der Hungerspiele war ihm eindeutig zuzutrauen.

Die anderen beiden Jungen kamen nicht aus Karriere-Distrikten. Trotzdem konnten sie gut kämpfen – was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass die Karrieros sie aufgenommen hatten.

Der etwas Kleinere hieß Roger Madore und kam aus Distrikt 5. Khaos Hathaway war der andere. Er kam aus Distrikt 9 und ich wunderte mich, seit wann die Karrieros sich mit einem Mitglied eines eher niedrigen Distriktes abgaben. Er musste wirklich ein sehr guter Kämpfer sein.

«Und, möchtest du mit uns trainieren?», fragte Nuray.

«Ich treffe mich gleich mit meiner Mentorin», erwiderte ich, «vielleicht morgen...» Mit diesen Worten wandte ich mich ab und machte mich auf die Suche nach Harper. Morgen würde ich vielleicht wirklich auf das Angebot der Karrieros zurückkommen, aber im Moment musste ich das Geschehene erst noch verdauen, denn ich konnte es immer noch nicht fassen, dass ich nun ein echter Karriero war.

Durch dieses Bündnis standen meine Chancen deutlich besser als noch vor wenigen Minuten. Die Karrieros waren nun mal das stärkste Bündnis. Die meisten Gewinner waren Teil davon gewesen.

Ich fand Harper in der hintersten Ecke der Trainingshalle. Sie beobachtete Rune, der in einer Kampfsimulation stand und ein Hologramm nach dem anderen mit Wurfsternen abschoss. Er war ziemlich gut darin, auch wenn er den ein oder anderen Schuss verfehlte.

Hastig eilte ich zu Harper. Meine Schritte erzeugten dumpfe Geräusche, die sich in der großen Halle verloren.

«Harper, Harper», brach es aus mir heraus, bevor ich meine Schwester erreicht hatte, «die Karrieros wollen sich mit mir verbünden»

«Was?!», entfuhr es Harper und sie erhob sich innert Sekunden von dem Hocker, auf dem sie bis eben gesessen hatte.

«Die Karrieros haben mich nach einem Bündnis gefragt», wiederholte ich mich. Ich hatte die letzten Schritte bis zu Harper hinter mir gelassen und stand nun direkt vor ihr.

«Und was hast du gesagt?», hakte sie mit misstrauischer Miene nach und durchbohrte mich mit ihrem Blick.

«Ich habe natürlich ja gesagt», antwortete ich wahrheitsgetreu und konnte mir das aufsteigende Grinsen nicht verkneifen.

«Das hättest du nicht tun sollen», zischte Harper abrupt und das Grinsen verschwand mit einem Schlag von meinen Lippen.

«Wieso denn nicht?», fragte ich stutzig, «meine Chancen zu überleben stehen dadurch um einiges besser. Sie können mir helfen, Harper»

«Nein!», entfuhr es ihr und sie raufte sich die Haare.

«Dann erklär mir wieso. Wieso sollten sie mir nicht helfen können?», wollte ich wissen und griff nach Harpers Arm, um ihr in die Augen sehen zu können. Sie entriss sich harsch meinem Griff.

«Vergiss es», sagte sie, «Jetzt ist es sowieso schon zu spät» Sie machte auf dem Absatz kehrt und wollte schon gehen.

«Aber Harper-«, rief ich, aber sie unterbrach mich mit einem schneidenden Handbewegung.

«Nein, Willow! Du machst alles nur noch schlimmer» Mit diesen Worten rauschte sie davon und wandte sich wieder Rune zu, der gerade die Simulation verließ.

Was war bloß in sie gefahren? Was war falsch an einem Bündnis mit den Karrieros?

Harper wollte doch auch, dass ich lebend aus der Arena kam. Weshalb sollte sie mir dann die beste Möglichkeit zu überleben vorbehalten wollen? Es wollte mir beim besten Willen keine gute Lösung einfallen.

Ich vertraute meiner Schwester und ich hatte mir heute Morgen vorgenommen, ihren Rat zu schätzen. Aber solange sie mir keinen vernünftigen Grund nannte, das Bündnis der Karrieros zu verlassen, würde ich dies auch nicht tun.

Denn momentan war es meine beste und einzige Chance lebend aus der Arena zu kommen.

Truth Rising | Die 51. HungerspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt