Willow Jane Osborn
Die vergangen Ereignisse waren von meinem Gehirn noch immer nicht vollständig akzeptiert worden. War es wirklich möglich, dass Harper nur noch am Leben war, weil die Spielmacher sie haben überleben lassen? Wäre sie tatsächlich gestorben?
Ich versuchte mir immer wieder auszureden, dass es stimmte, aber ich wusste, dass ich mich nur selbst belog. Ich hatte die Wahrheit mit meinen eigenen Ohren gehört.
Nach ewig herumirren fand ich die Trainingshalle schliesslich. Ich wollte nicht trainieren, wollte mich einfach irgendwo verkriechen und niemals wieder hervorkommen. Ich wollte einfach meinem elenden Schicksal entgehen.
Auch ohne die Spielmacher und den Präsidenten, die mich loswerden wollten, war mein Tod vorsehbar. Die Spielmacher würden wahrscheinlich keinen Finger rühren müssen, um mich loszuwerden. Und falls ich aus eigener Kraft das Blutbad überleben würde, wäre es für sie ein leichtes, mich kurz und knapp zu töten. Ich hatte keinerlei Chance.
Ich trainierte nur halbherzig. Was konnte das bisschen Training schon gegen die Macht der Spielmacher ausmachen? Nichts. Ich konnte nichts, aber auch gar nichts tun, um mein Leben in die Hand zu nehmen.
Die Trainingszeit zog sich wie Kaugummi in die Länge. Die Zeit schien schier gar nicht voranzugehen, quälend langsam verging Stunde um Stunde.
Zusammengekauert sass ich in der hintersten Ecke der Trainingshalle, versteckt hinter einem Ständer mit Schwertern. Ich hatte die Arme um die Beine geschlungen, den Kopf auf den Knien abgelegt. Meine Augen starrten ins Nichts.
Die Lautsprecherstimme liess mich hochschrecken und verkündete, dass das Training für heute abgeschlossen war. Konnte wirklich schon der ganze Tag vergangen sein?
Dann erinnerte ich mich daran, dass heute nur bis zum Mittag trainiert wurde, da am Abend die Interviews anstanden. Ich hatte mal so gar keine Lust auf diese Interviews. Wieder würde ich mich verstellen müssen, wieder würde ich so tun müssen, als würde ich nicht am Boden zerstört sein.
Mit schnellen Schritten eilte ich aus der Trainingshalle. Ich ging den langen Gang entlang zum Lift und fuhr zu unserem Stockwerk hoch. Kaum öffneten sich dir Türen, rauschte ich auch schon aus dem Lift in unser Appartement.
«Und, Willow Schätzchen, wie war das heutige Training?», fragte Irina, die aufgebrezelt wie immer am Esstisch sass. Mit einem freudigen Grinsen sah sie mich an.
Ich ignorierte sie eiskalt. Ohne mit der Wimper zu zucken, ging ich an ihr vorbei, verschwand in meinem Zimmer und knallte die Tür mit voller Wucht zu. Kraftlos liess ich mich auf mein Bett fallen und vergrub das Gesicht im Kissen. Ich konnte die aufgestauten Tränen einfach nicht mehr zurückhalten. Massenweise flossen sie über meine Wangen und versickerten im Stoff des Kissens.
Nach einer Weile lag ich mit dem Rücken auf dem Bett. Die Tränen flossen noch immer haltlos über mein Gesicht, aber das Schluchzen hatte nachgelassen.
Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die Tür. Sofort sass ich kerzengerade da, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und sah nach, wer reingekommen war.
Es war Harper. Mit besorgtem Ausdruck auf dem Gesicht stand sie im Türrahmen. Als sie mein verheultes Auftreten sah, wurde der Ausdruck sogar noch besorgter.
«Willow? Was ist denn los?», fragte sie mit sanfter Stimme, während sie auf mich zu kam und sich neben mich auf die Bettkannte setzte.
Verdammt, Harper wusste ja noch gar nicht, was ich mitbekommen hatte. Wie würde es ihr wohl gehen, wenn sie davon erfuhr? Wie würde sie sich fühlen, wenn sie erfuhr, dass sie anstelle von Weylin gerettet worden war?
Sollte ich ihr überhaupt davon erzählen? Ja, das musste ich einfach. Ich konnte es nicht für mich behalten, egal wie Harper auch reagieren mochte. Wenn ich ihr nichts davon erzählte und in der Arena ums Leben kam, würde sie wahrscheinlich nie davon Wind bekommen. Ich musste es ihr erzählen, sie hatte die Wahrheit verdient.
«Bitte, Willow, sag mir was los ist», flehte Harper, als ich nichts sagte, da ich nicht wusste, wie ich ihr die Neuigkeiten beibringen möglichst schonend beibringen sollte.
«Sie-«, begann ich, aber meine Stimme brach und ich wurde von einem erneuten Schwall von Tränen unterbrochen.
«Ja?», fragte Harper und legte einen Arm um meine Schultern.
«Weylin-«, versuchte ich es erneut, aber auch jetzt wollte meine Stimme mir nicht gehorchen.
Harpers Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig von besorgt zu verwundert. Völlig verwirrt starrte sie mich an, fragte sich wahrscheinlich, ob sie mich tatsächlich richtig verstanden hatte.
«Weylin?», fragte sie mich brüchiger Stimme, «Was ist mit ihm?»
«Sie...», sagte ich, «Sie haben ihn umgebracht» Jetzt war es raus.
Harpers Augen wurden innert weniger Sekunden grösser und füllten sich mit Tränen. Ihr Gesichtsausdruck war ungläubig. «Wie...», stotterte sie, «Wie meinst du das? Wer...» Nun versagte Harpers Stimme.
Mein ganzer Körper schien zu zittern. Vor mich hin stotternd sass ich Harper gegenüber, jedes Wort kostet mich eine Menge Überwindung.
«Sag mir, was du meinst!», fehlte Harper, nahm mich bei den Schultern und drehte mich so, dass ich ihr in die Augen sehen musste.
«Letztes Jahr bei den Spielen», begann ich zu erzählen, «wärst du eigentlich ums Leben gekommen, aber...die Spielmacher haben dich gerettet, um einen Gewinner zu haben»
Ungläubig starrte Harper mich an, immer wie mehr Tränen hatten sich in ihren Augen gesammelt und nun strömten sie über ihre Wangen. Ich wusste, dass sie mir glaubte, ich wusste, dass sie mir jedes einzelne Wort glaubte, obwohl das Ganze für sie kein ganzes Stück zu ergeben schien.
Mehrere Minuten sassen wir einfach so da, starrten uns gegenseitig an. Keiner sagte etwas, bis Harper schliesslich die Stille brach und mich nach Einzelheiten fragte.
Sie wollte alles wissen. Ich erzählte ihr, wie es dazu bekommen war und was genau die beiden Leute gesagt haben. Und ich erzählte ihr auch, dass ich meine, die Stimme des Präsidenten erkannt zu haben.
«Und Harper», sagte ich, nachdem ich ihr alles erzählt hatte – fast alles. «ich glaube, dass sie mich gesehen haben»
«Was?!», entfuhr es Harper.
«Als ich sie belauscht habe, habe ich ein Geräusch gemacht und sie haben mich durch den Türspalt gesehen»
«Sag, dass das nicht wahr ist», sagte Harper und es sah aus, als würde sie kurz vor der endgültigen Verzweiflung stehen. Wahrscheinlich tat sie das auch.
«Doch», brachte ich mühsam hervor.
Wieder lösten sich ein paar Tränen aus ihren Augen. Sie nahm mich in die Arme und drückte mich ganz fest. Nun musst ich auch wieder zu weinen anfangen.
«Es tut mir so leid, Willow», murmelte sie, gefolgt von einem Schluchzen in mein Ohr. Wenn überhaupt möglich drückte sie mich noch fester, sodass ich kaum mehr Luft bekam. Es störte mich nicht, ich war froh, dass sie zu mir stand.
«Du kannst nichts dafür»
«Du aber auch nicht», schniefte sie.
«Sie werden mich bestimmt in der Arena töten, damit ich nichts durchsickern lassen kann», sagte ich.
«Das werde ich nicht zulassen», erwiderte Harper, löste sich aus der Umarmung und schaute mir direkt in die Augen, «Niemals!»
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Truth Rising | Die 51. Hungerspiele
FanfictionTeil 2 ᯽᯽᯽ »Warum sagen alle, dass man ehrlich sein soll, wenn man später dafür umgebracht wird, die Wahrheit aussprechen zu wollen?« Nur ein Jahr, nachdem Harper Thea Osborn zur Gewinnerin der 50. Hungerspiele gekürt wurde, trifft ein Schlag des Sc...