18. Kapitel

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Harper Thea Osborn
Wir kamen schliesslich in Distrikt 7 an, nachdem wir zwei Tage lang durch die Distrikte gewandert waren, um uns Verbündete zu suchen. Bisher hatte ich fünf Leute davon überzeugen können, mir zu helfen. Das war nicht viel, doch ich war unendlich dankbar für jeden Einzelnen.

Erst einmal hatten wir Ley, die Schwester von Bellamy. Nachdem ihr Bruder mich abgewiesen hatte, da er mir die Schuld an Bellamys Tod gab, hatte sie sich dazu bereit erklärt mir zu helfen. Sie war zwar erst 15 Jahre alt, doch ich war davon überzeugt, dass sie mir eine grosse Hilfe sein würde.

Ley war auch diejenige gewesen, die einen weiteren Verbündeten für unsere Gruppe – wir nannten uns mittlerweile Der Widerstand – gefunden hatte. Jasper Marrow war ein guter Freund von ihr und als sie ihn um Hilfe gebeten hat, war er einverstanden und hatte sich uns angeschlossen.

Aus Distrikt 4 hatten wir keine weiteren Verbündeten finden können und auch aus den Distrikten 5 und 6 wollte uns niemand einfallen, der uns helfen würde.

Ich hatte letztes Jahr in der Arena zwar die Tribute aus Distrikt 5 getroffen. Ich erinnerte mich noch sehr genau an die beiden. Ihre Namen waren Aalany Campell und Sheadon Bancroft. Doch ich würde für keinen Preis bei ihren Familien klingeln und sie um Hilfe beten, denn der Tod der beiden lag voll und ganz auf meinen Schultern. Sie waren meinetwegen gestorben.

Weylin und ich hatten gemeinsam Sheadon umgebracht, da er versucht hatte uns zu töten. Und die 12-jährige Aalany hatte sich daraufhin selbst umgebracht, da sie es nicht mehr aushielt in der Arena. Sie hatte von Anfang an keine Hoffnung gehabt als 12-Jährige zu gewinne, doch als auch noch ihr Verbündeter starb und sie auf sich allein gestellt wäre, hatte sie auch den letzten Funken Hoffnung aufgegeben. Sie hatte sich vor meinen Augen das Leben genommen.

Also waren wir nach Distrikt 7 gegangen. Alles in mir hatte sich dagegen gewehrt, doch ich wusste, dass es nötig war. Ich konnte nicht auf mögliche Verbündete verzichten, nur weil meine Gefühle es nicht wollten. Ich konnte Distrikt 7 und jeglichen Erinnerungen an Weylin nicht ewig aus dem Weg gehen. Eines Tages würden sie mich sowieso einholen.

Nun ging unser kleines Grüppchen den Strassen entlang. In der Hand hielt ich eine Karte, auf der ich mir den Weg zu dem Haus der Morgans eingezeichnet hatte. Es fehlten nur noch ein paar wenige Abbiegungen, bis wir ihr Haus erreichen würden.

«Hey!», rief auf einmal jemand und ich fuhr augenblicklich herum, «Was seid ihr denn für ein zielloses Grüppchen?»

Erst konnte ich niemanden sehen, doch dann fiel mein Blick auf eine Gasse zwischen zwei Häusern, die in einer Sackgasse endete. Dort sass ein Mädchen in meinem Alter auf einer schmutzigen Decke und musterte unser Grüppchen neugierig.

«Ich habe euch hier noch nie gesehen und normalerweise kommen keine neuen Leute in dieses Viertel – sie sind hier nicht willkommen!», rief sie uns zu.

«Wir sind nur auf Durchreise», entgegnete ich mich entspannter Miene. Das Mädchen schien leicht reizbar zu sein und wir konnten nicht riskieren aufgehalten zu werden.

«Auf Durchreise, hm?», fragte sie mit einem Grinsen im Gesicht, «Das klingt ja schon illegal. Da könnt ihr genauso gut ein Schild hochheben auf dem 'Wir planen etwas Verbotenes' steht»

«Ach sei doch still», entfuhr es Ley, die neben mir stand, «Was weisst du schon? Du hast keine Ahnung»

«Schaut euch an, wie schnell sie wütend wird – niedlich. Weisst du, deine Reaktion bestätigt mich nur darin, dass ich mit meiner Vermutung recht habe. Aber, naja, wenn du darauf bestehst, dass ihr ganz legal unterwegs seid, können wir's ja überprüfen und ich rufe jetzt mal schön die Friedenswächter» Sie griff in ihre Hosentasche, wahrscheinlich um ein Telefon hervorzuholen.

«Stopp!», rief ich, «Lass es mich dir erklären. Wir sind tatsächlich drauf und dran etwas illegales zu tun, doch es ist nichts Böses, auch wenn manche Leute das so sehen würden»

«Wusste ich's doch!», machte das Mädchen und klatschte triumphierend in die Hände. «Ich habe übrigens kein Telefon, sehe ich so aus, als hätte ich das Geld für ein Telefon?» Sie blickte an sich hinunter. Sie trug verschlissene Kleidung und ihre Haare waren zerzaust. Sie war ziemlich dünn, so als hätte sie zu lange nichts mehr gegessen und es schien so, als wäre diese Gasse hier tatsächlich ihr Zuhause. «Eure Geschichte möchte ich trotzdem hören»

Und so erzählten wir ihr alles von Anfang bis Ende. Wir begannen damit, dass ich die Spiele gewonnen hatten und endeten damit, dass wir die Spiele beenden wollten und dazu Verbündete brauchten.

«Ich bin dabei», sagte das Mädchen und streckte mir die Hand entgegen. «Klingt super!»

«Was?», fragte ich verdutzt, «Du willst uns helfen, obwohl wir uns nicht kennen und du gar nichts mit der Sache zu tun hast. Du weisst schon, dass das eine sehr gefährliche Sache ist und es keine Garantie dafür gibt, dass du lebend zurückkehren wirst»

«Schon klar, Schätzchen», sagte sie, «Seh' ich so aus, als hätte ich etwas zu verlieren? Ausserdem bist du nicht die Einzige, die mit dem Kapitol noch eine Rechnung offen hat»

«Wieso, was ist geschehen?», grafte Jasper neugierig.

«Es gibt einen Grund, weshalb ich ohne Familie hier herumsitze und obdachlos bin», begann sie, «Und ihr könnt euch bestimmt vorstellen, wer daran Schuld ist»

«Das Kapitol», vermutete ich und das Nicken des Mädchens verriet mir, dass ich Recht hatte.

«Mein Vater starb schon als ich noch klein war an einer unheilbaren Krankheit – meine Familie hatte also kaum genug Geld zum Überleben», begann sie ihre Erzählung, «Als meine ältere Schwester 15 Jahre alt war, wurde bei der Ernte ihr Name gezogen und sie musste in die Hungerspiele ziehen. Ihr könnt euch bestimmt schon denken, dass sie nicht überlebt hat»

Sie unterbrach ihre Erzählung kurz und wandte den Blick ab, doch dann sah sie mich wieder an und erzählte weiter.

«Doch das war nicht das Schlimmste. Meine Mutter war schon nach dem Tod meines Vaters nicht mehr wie zuvor. Sie konnte nicht gut mit solchen Dingen umgehen. Doch als dann auch noch ihre Tochter in den Spielen starb, konnte sie es nicht mehr aushalten. Ich fand sie am Morgen nach dem Tod meiner Schwester tot im Badezimmer. Sie hatte sich die Pulsadern durchgeschnitten»

«Das- das tut mir sehr leid», flüsterte ich und sah sie mitfühlend an. Sie wandte den Blick ab.

«Ich hatte nichts mehr. Keine Familie und auch kein Zuhause. Als 13-Jährige hatte ich keinen Job finden können und so wurde das Haus meiner Familie schon bald verkauft. Die meisten Besitztümer ebenfalls. Das Kapitol hat mir alles genommen, bis nichts mehr übrig war. Und ich bin durchaus bereit zu kämpfen, selbst wenn ich dabei mein Leben lassen sollte. Ich habe nichts zu verlieren, habe niemand den ich verletzen könnte, falls ich tatsächlich sterbe, denn es gibt niemanden»

«Jetzt bist du nicht mehr allein», sagte ich und machte Anstalten sie zu umarmen.

«Lass das – bitte!», sagte das Mädchen, «Nur weil ich mich euch angeschlossen habe heisst das nicht, dass wir gleich beste Freunde sind und gleich eine Kuschelrunde veranstalten. Ich brauche meine Zeit, um Leuten zu vertrauen und ihnen näher zu kommen»

«Tut mir leid», entschuldigte ich mich und reichte ihr stattdessen meine Hand, «Ich bin Harper Osborn und das sind Ley und Jasper» ich deutete auf meine beiden Verbündeten.

«Seh ich so aus, als würde ich deinen Namen nicht kenne?», fragte das Mädchen. «Ich bin zwar obdachlos, doch ich kriege trotzdem noch was von der Welt mit – besonders wenn es um die Hungerspiele geht»

Sie griff nach meiner Hand. «Choi Min-Ah! Freut mich die Bekanntschaft mit dir zu machen»

Truth Rising | Die 51. HungerspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt