8. Kapitel

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Willow Jane Osborn

Gestern hatte ich tatsächlich mit den Karrieros trainiert. Wir haben mit der Waffe, mit der wir am besten umgehen konnten, einen Dummie abgeschossen. Da ich gestern gelernt hatte, wie man mit Pfeil und Bogen umging, waren sie sogar ein wenig beeindruckt von mir – denke ich.

Ich habe nur ein oder zwei Pfeile verfehlt. Die anderen hatten allesamt ihr Ziel getroffen. Irgendwie war ich stolz auf das, was ich in so kurzer Zeit gelernt hatte.

Die Karrieros waren zwar allesamt besser als ich, aber trotzdem haben sie mit mir gesprochen und es hat sogar Spaß gemacht. Sie haben mir sogar ein paar nützliche Tipps gesagt. Ich denke, es war die richtige Entscheidung, mich mit ihnen zu verbünden, egal was Harper dazu denkt.

Ich schaute mich um. Der Gang, in dem ich mich gerade befand, kam mir überhaupt nicht bekannt vor. Wie es schien, hatte ich mich auf dem Weg ins Trainingscenter verlaufen, da ich in Gedanken gewesen war.

Ich würde einfach weitergehen, bis ich jemandem begegnete und denjenigen nach Hilfe fragen konnte. Und nur wenige Minute später wäre ich wieder in der Trainingshalle.

Meine Schritte hallten durch die leeren, weißen Gänge des Kapitols. Ich lauschte in die Stille, um Schritte oder Stimmen auszumachen. Ich konnte nichts hören, absolute Stille lag über dem Gang. Wie weit war ich denn vom Trainingscenter entfernt?

Ein Geräusch ließ mich herumfahren. Waren da Stimmen gewesen? Ja, es hörte sich so an.

Ich folgte den immer lauter werdenden Stimmen, bis ich bei einer nicht vollständig verschlossenen Tür ankam. Die Stimmen kam von Innen. Ich trat näher heran und wollte mich bemerkbar machen, aber etwas ließ mich verstummen.

Auf einem Bildschirm, der an einer Wand des Raumes angebracht war, lief ein Video. Es waren zwei Gestalten, Hand in Hand. Sie sprangen von einer meterhohen Klippe und stürzten in tosende Flutwellen. Ich erkannte sie: Harper und Weylin. Der Bildschirm zeigte das Ende der 50. Hungerspiele.

Meine Hand zitterte, mein Atem bebte. Was hatte das zu bedeuten?

Die Stimmen von vorhin setzten wieder ein. Zwei Personen befanden sich in dem Raum, der eine redete eindringlich auf den anderen ein. Ich musste mich konzentrieren, um sie verstehen zu können.

«Ich habe es ihnen dieses eine Mal durchgehen lassen. Sorgen sie dafür, dass es kein weiteres Mal vorkommt» Die Stimme des Mannes kam mir bekannt vor, aber im Moment musste ich mich auf das Gespräch konzentrieren.

«Ich tue mein Bestes», entgegnete der andere Mann im Flüsterton.

«Das ist eine ernste Sache. Wenn jemand erfährt, dass wir jemanden vor dem Tod bewahrt haben, nur, um einen Gewinner zu haben, wird die Bevölkerung nachdenklich werden. Sie werden alles hinterfragen. Und damit meine ich nicht nur zukünftige Entscheidungen, sondern auch Dinge, die schon längst vorüber sind. Verstehen sie das?» Der Mann war immer wie näher an sein gegenüber herangetreten. Bedrohlich erhob er sich über ihm.

«Na-natürlich, Sir», stammelte der Mann mit zu Boden gerichtetem Blick.

«Dieses Mal werden sie alles laufen lassen und nicht daran herumpfuschen, verstanden?»

Ich konnte einfach nicht glauben, was sie da sagten. In meinen Ohren gab das alles keinen Sinn und trotzdem wusste ich, dass ich nichts als die reine Wahrheit gehört hatte.

Ich taumelte ungewollt rückwärts, taumelte. Ruckartig krallte ich mich mit der Hand am Türrahmen fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Meine Reaktion erzeugte einen stumpfen Knall. Ich zuckte instinktiv zusammen, mein ganzer Körper verkrampfte sich, ich war nicht fähig, mich zu bewegen.

Ihr habt mich nicht gehört, ihr habt mich nicht gehört, ihr habt mich nicht gehört.

Mein Atem zitterte, meine Augen fixierten die beiden Gestalten, die ich bis eben belauscht hatte. Ihr Gespräch war verstummt, langsam wandten sie den Kopf in meine Richtung.

Ich wartete nicht ab, sondern nahm die Beine in die Hand und flüchtete so schnell ich konnte. Ohne zu wissen, wohin ich eigentlich rannte, flüchtete ich durch die Gänge.

Hatten sie mich gesehen?

Wenn sie mich tatsächlich gesehen – und erkannt - hatten, steckte ich in ernsten Schwierigkeiten. Ich wusste die Wahrheit über die 50. Hungerspiele, war eine undichte Stelle im System. Und undichte Stellen mussten eliminiert werden.

Ich versuchte die aufsteigende Panik in meinem Innern zu unterdrücken – es misslang mir kläglich. Wie ein Lauffeuer breitete sie sich Stück für Stück in meinem Innern aus, bis sie jeden Winkel ausfüllte.

Ich wagte nicht anzuhalten, weil ich fürchtet, dass die beiden Leute mir noch immer auf den Fersen waren. Das war jedoch ausgeschlossen. Wenn sie mich erkannt hatten, mussten sie mich gar nicht verfolgen. Und diese Tatsache löste in mir die Gewissheit aus, dass sie mich erkannt hatten. Sie wussten, dass ich Willow Jane Osborn war.

Plötzlich konnte ich nicht mehr weiterlaufen, weil meine Beine unerwartet unter mir nachgaben. Kraftlos sank ich zu Boden, mein Atem ging hektisch, mein ganzer Körper schien zu zittern.

Vergebens versuchte ich mich zu beruhigen, aber es gab nichts, was mich hätte beruhigen können. Meine Situation war schon vor dem eben belauschten Gespräch hoffnungslos, doch nun erstarb auch der letzte Funken Hoffnung, an den ich mich geklammert hatte.

Die Spielmacher hatten Harper überleben lassen, obwohl sie vor einem Jahr eigentlich ums Leben gekommen wäre. Es wäre für die Spielmacher ein leichtes, mich zu töten. Sie könnten in der Arena einfach einen Baum auf mich stürzen lassen. Ich wäre tot, bevor ich etwas ahnen würde und keiner würde merken, dass die Spielmacher ihre Finger im Spiel hatten. Sie würde meinen Tod als Unaufmerksamkeit einer mickrigen Dreizehnjährigen abtun.

Und dann fiel mir siedend heiß eine weitere Tatsache ein. Etwas, zu dem ich vorher nicht in der Lage gewesen war, da ich zu konzentriert dem Geräusch gelauscht hatte.

Die eine Stimme war mir bekannt vorgekommen, aber ich hatte nicht die nötige Konzentration aufbringen können, mich daran zu erinnern. Aber nun wusste ich wieder, zu wem die Stimme gehörte.

Es war der Präsident Panems höchst persönlich.

Truth Rising | Die 51. HungerspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt