2. Kapitel

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Willow Jane Osborn

Früh morgens stand ich am schmalen Fenster des Zuges und bestaunte das Kapitol. Es war noch viel beeindruckender, als Harper es beschrieben hatte und auf den ersten Blick konnte man kaum fassen, dass diese Leute zu so furchtbaren Dingen fähig waren.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter und als ich mich umdrehte, erblickte ich Harper. Sie schenkte mir ein ermutigendes Lächeln, das ich dankend erwiderte. Während der Zugfahrt war meine Nervosität bis zum Himmel gestiegen.

"Mach dich bereit", sagte sie, "Wir sehen uns nach der Eröffnung wieder". Danach verließ sie das Zugabteil. Bevor die Tür vollständig geschlossen war, öffnete sie sich erneut und Rune Harmon betrat den Raum. Seine Haare waren dunkelbraun und standen in alle Himmelsrichtungen ab. Die Augen schimmerten in einem fast goldigen Braun. Sein Gesicht war übersäht mit Sommersprossen.

"Es ist gigantisch", sagte er, "das Kapitol meine ich" Ich nickte und wandte mich in seine Richtung.

"Verbünden wir uns", fragte ich, "oder willst du deinen eigenen Weg gehen". Insgeheim fürchtete ich mich davor, keine Verbündeten zu haben. Ich wäre vollkommen auf mich allein gestellt und allgemein mochte ich es nicht, niemanden um mich zu haben. Nicht, dass ich der Mensch war, der mit jedem zu reden begann, aber komplette Einsamkeit machte mich nervös. Außerdem hatte Harper mir geraten, Verbündete zu suchen.

"Wir könnten, aber für mich ist es ziemlich riskant", sagte er und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare.

"Wieso denn riskant", fragte ich neugierig und ging zu ihm hin. Er war mindestens einen Kopf grösser als ich und musste etwa in Harpers Alter sein.

"Du bist die Schwester von Harper Thea Osborn", sagte er gelassen, "viele werden dich als Konkurrenz sehen und dich als erstes umbringen wollen". Seine Worte brachten mich dazu, unmerklich zusammenzuzucken. Er hatte recht, sie würden mich als Konkurrenz sehen. Sie würden Jagt auf mich machen und ich würde sterben, noch bevor der erste Tag zu Ende war.

"Dann solltest du tun, was für dich am sichersten ist", sagte ich, obwohl ich ihn am liebsten erneut nach einem Bündnis gefragt hätte.

"Wir sollten gehen". Mit diesen Worten wandte er sich ab und verließ den Raum. Ich folgte ihm und kurz darauf verließen wir mit den anderen Tributen den Zug. Die meisten von ihnen waren älter als ich und überragten mich genau wie Rune um mindesten einen Kopf.

In dem Gebäude, in das wir gerade geführt worden waren, wurden wir auf verschiedene Liegen aufgeteilt, wo wir warten sollten. Es folgte eine schreckliche Prozedur, bei der zwei Leute an mir herumfingerten und mich hübsch machten. Wozu das? In wenigen Tagen würde ich eh tot sein.

Nein, so durfte ich nicht denken. Wenn ich schon jetzt alle Hoffnung aufgab, konnte ich auch einfach Selbstmord begehen. Und das wollte ich nicht.

Danach wurde ich in ein spärlich eingerichtetes Zimmer geführt, wo ich auf meinen Stylisten warten sollte. Ich setzte mich auf die Liege, aber ich musste nicht lange warten, denn schon nach wenigen Minuten, betrat ein bunt bekleideter Mann den Raum.

"Ich bin Filius Featherman, dein Stylist", begann er mit schleimiger Stimme, "Herzliche Gratulation Miss Osborn, es ist mir eine Ehre, sie kleiden zu dürfen. Sie sind schliesslich die Schwester der berühmten Harper Thea Osborn"

Verdattert starrte ich ihn an, während er meine Hand abknutschte. Widerlich. Der Typ war ja schrecklich. Wie kam er nur darauf mir zu gratulieren? Zu sterben war ja nicht unbedingt etwas gutes, worauf man neidisch sein musste.

"Danke", brachte ich trotzdem hervor und entriss mich seinen Fängen.

"Dann wollen wir dich doch mal einkleiden, Schwester von Harper Thea Osborn", säuselte er und ging zu einem Schrank hin. Nach einigem suchen brachte er ein komisches Etwas zum Vorschein. Bei näherem betrachten konnte ich zwei große Muscheln und ein Fischernetz erkennen. Verdutzt starrte ich das 'Kleid' an.

"Ein wahres Meisterwerk!", schwärmte Filius.

"Sie können es gerne tragen, ich verzichte", sagte ich und bekam gleich darauf einen verwirrten Blick von Filius zu sehen. Ein leichtes Grinsen schlich sich auf mein Gesicht, denn die Vorstellung des kugelrunden Filius in einem Fischernetz war einfach zu herrlich.

Das Grinsen verging mir aber wieder, als Filius mich bat das Kleid anzuziehen. Ich schüttelte heftig den Kopf, niemals würde ich diesen Fetzten vor ganz Panem tragen.

"Ich zieh das ganz bestimmt nicht an", sagte ich mit Nachdruck, aber Filius erlaubte keine Widerrede.

Kurz darauf stand ich in dem Kleid vor dem Spiegel und betrachtete mich missmutig. Das Fischernetz war an manchen Stellen zerrissen und mit unzähligen Perlen geschmückt. Wenigstens befand sich unter dem Netz ein dünner Stoff, wie ich bei näherem Betrachten feststellte. Die zwei Seesterne bildeten das Oberteil und mein Hals wurde geziert von einer fetten Perlenkette. Kurz gesagt: Ich sah absolut schrecklich aus.

Filius schien sein Werk kaum in Worte fassen zu können, nachdem er meine Haare hochgesteckt und mein Gesicht mit Unmengen an Schminke überdeckt hatte. Meine Füße steckten in Highheels, deren Absatz viel zu hoch war, als dass man darauf gehen konnte.

"Traumhaft", war das Einzige, was Filius hervorbrachte. Dann führte er mich zu den Kutschen für die Parade. Ich knickte bei jedem zweiten Schritt ein, da ich nicht fähig war, auf den Highheels zu laufen.

"Wie siehst du denn aus", sagte Rune, als er mich sah.

"Ich weiß", antwortete ich und stellte mich zu ihm auf die Kutsche. "Ist es nicht total peinlich so vor ganz Panem zu treten, die Leute werden mich verspotten"

"Für die ist das wahrscheinlich der neuste Schrei", gab Rune zu wissen und zuckte mit den Schultern. Ich schaute skeptisch an mir herab und wandte meinen Blick dann ihm zu. "Weiß man's", sagte er.

"Du hast gut reden, dein Outfit ist nicht halb so schlimm wie meins", sagte ich. Er trug einen beigen Smoking, der über und über mit Sand bedeckt war. Ok, die Fetzten eines Fischernetzes, die an seinem Outfit befestigt waren, sahen alles andere als gut aus, aber an mein Outfit kam seines damit trotzdem nicht heran.

Kurz darauf setzten sich die Kutschen mit einem Ruck in Bewegung und ich wäre fast eingeknickt. Diese bescheuerten Schuhe. Mein ganzer Körper kribbelte, als wir in Sicht der Zuschauer kamen. Rune nahm meine Hand und wir streckten sie in die Höhe. Er lächelte und winkte den Zuschauern zu, aber ich war ganz beschäftigt damit nicht im Erdboden zu versinken vor Scham. Am liebsten hätte ich mich geduckt und mich in der Kutsche verkrochen.

"Wink ihnen zu, du kannst Sponsoren gebrauchen", flüsterte Rune mir zu. So überzeugend wie möglich hob ich meine Hand, um zu winken und lächelte den Zuschauern zu.

Das hätte ich nicht tun sollen, denn kaum hatte ich meine Hand vom Geländer der Kutsche gelöst, verlor ich das Gleichgewicht und kippte gegen hinten. Zum Glück bemerkte Rune es rechtzeitig und legte seinen Arm um meine Schulter, um mich vor dem Fall zu bewahren.

"Danke", hauchte ich in seine Richtung. Meine Wangen hatten sich rot verfärbt vor Scham.

Ich fühlte mich schrecklich unwohl in meiner Haut und ich war unendlich froh, als wir endlich zu stehen kamen. Das bedeutete nämlich, dass es nicht mehr lange dauerte, bis das hier zu Ende war. Ich musste nur noch die Rede des Präsidenten ertragen.

"Seid willkommen Tribute", begann der Präsident seine Rede, "es ist mir eine Ehre euch auf eurem Weg der 51. Hungerspiele begleiten zu dürfen" Dann zählte er mehrere Leute auf, bei denen er sich bedanken möchte, was uns alle erwartet und so weiter und so weiter.

Dann, endlich, fuhren unsere Kutschen fort, weg von den vielen Leuten.

Truth Rising | Die 51. HungerspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt