5. Kapitel

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Willow Jane Osborn

Am nächsten Tag erwachte ich früh morgens. Ein schrecklicher Traum hatte mich aus dem Schlaf gerissen. Verschlafen rieb ich mir die Augen und stand auf. Wahrscheinlich stand schon bald das Frühstück und danach das Training an.

Ich hatte absolut keine Lust dazu. Vorallem, weil ich Harper gestern grundlos angeschrien hatte. Dabei konnte sie auch nichts dafür, dass ich mich in dieser Situation befand.

Für sie war die Situation wahrscheinlich nicht viel weniger schlimm als für mich. Schliesslich würde sie ihre Schwester verlieren. Ich hatte mich letztes Jahr auch grausam gefühlt und Harper war nicht gestorben.

Deswegen fasste ich den Entschluss, heute das zu tun, was Harper sagte. Ich würde mich den Waffen zuwenden und versuchen, mit ihnen umzugehen. Und ich werde versuchen, nicht so pessimistisch zu denken.

Das Frühstück verlief einigermaßen ruhig. Irina sprach nicht halb so viel wie sonst, Harper saß auch still an ihrem Platz. Wahrscheinlich wollte sie nach den, was gestern passiert ist, nicht noch einmal riskieren, dass ich mich in meinem Zimmer verkroch.

Rune war beim Frühstück nicht dabei, da er beschlossen hatte, früher schon zu trainieren. Ich wünschte, dass ich so viel Motivation wie er hätte. Aber das tat ich nun mal nicht.

Nach dem Essen machte ich mich für das Training bereit, dann ging es in die Trainingshalle. Ich mache mich allein auf den Weg. Gerade als ich den langen Gang zum Lift entlang lief, kam Harper von hinten und hielt mich auf.

»Wir könnten zusammen ein wenig üben, ich bin schliesslich deine Mentorin«, sagte sie.

»Mhm«, machte ich, während wir den Lift beraten und ich den Knopf für die richtige Etage drückte.

»Soll ich dir auch zeigen wie man mit Waffen umgeht?«, fragte sie vorsichtig.

Ich nickte leicht. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie legte mir eine Hand auf die Schulter.

»Ich weiß, dass du dir deine Chancen mehr als schlecht ausrechnest, aber du darfst nicht aufhören positiv zu denken. Du darfst die Hoffnung nicht so schnell  aufgeben«, sagte sie. »Damals habe ich mich genau so gefühlt wie du jetzt. Und ich habe es trotzdem geschafft. Also kannst du es auch«

»Aber die sind riesig und sie schlagen mir den Kopf ab, bevor ich eine Hand haben kann«, bemerkte ich.

»Du musst ihnen einfach aus dem Weg gehen und das Kämpfen den anderen Tributen überlassen«

»Glaubst du wirklich, dass ich es schaffen kann?«, fragte ich weinerlich und fixierte Harper mit großen Augen.

»Komm her!«, sagte sie und schloss mich in eine feste Umarmung, »Du wirst es schaffen«

Ein Klingeln ertönte und wir lösten uns aus der Umarmung, der Lift war angekommen. Stumm gingen Harper und ich nebeneinanderher. Sie hielt meine Hand und drückte sie ganz fest, um mir zu zeigen, dass sie an mich glaubte. Dankend erwiderte ich den Druck.

Tatsächlich fühlte ich mich durch die Ermutigung meiner Schwester nicht mehr so verloren. Sie war vor einem Jahr zwar älter gewesen als ich, aber sie hatte auch keinerlei Erfahrung mit Waffen gehabt. Trotzdem hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben und bis zum Schluss gekämpft. Und sie hatte es geschafft, sie hatte überlebt.

Ich fasste den Verschluss, mir heute beim Training extra viel Mühe zu geben. Ich würde mir ein oder zwei Waffen vornehmen und üben bis zum Umfallen. Dann brauchte ich nur noch ein zwei Verbündete und schon standen meine Chancen um einiges besser.

Ich straffte die Schultern und beschleunigte mein Tempo. Harper neben mir grinste und passte sich meinem Tempo an.

«Plötzlich so motiviert?», fragte sie mit einem Grinsen auf den Lippen.

«Ich muss trainieren, um eine Chance zu haben», antwortete ich.

Dann erreichten wir die Trainingshalle und ich verabschiedete mich von Harper. Sie würde zu Rune gehen, schliesslich war sie auch seine Mentorin.

Ich ließ meinen Blick durch die Halle schweifen. Zur Nahkampf-Station würde ich bestimmt nicht gehen, denn dafür war ich eindeutig zu schwach. Am besten suchte ich mir eine Waffe, mit der man nicht zu nah an seinen Gegner herantreten musste. Harper hatte die Armbrust gewählt, aber ich würde den Pfeilbogen nehmen.

Zielstrebig lief ich zur Station und nahm mir einen etwas kleineren Bogen vom Ständer. Von einer anderen Halterung nahm ich mir noch eine Hand voll Pfeilen. Es waren helle, glatte Metallpfeile, die perfekt zum Bogen passten. Die Federn waren durchsichtig. Ich strich mit den Fingern darüber.

Ich hatte noch nie einen Pfeil oder einen Bogen in der Hand gehabt, aber ich hatte schon oft genug zugesehen, wie jemand einen benutzte. In den letzten zwei Jahren hatte es immer einen Tribut gegeben, der den Pfeilbogen als seine Waffe gewählt hatte und ich hatte mir die Spiele und das Training immer angesehen.

Ich stellte mich mit zehn Meter Abstand vor der Zielscheibe auf, atmete einmal tief ein und aus und spannte dann den Pfeil ein. Ich wusste, dass ich das Nock in die Sehne spannen musste und die etwas hellere Feder links liegen musste, um den Bogen nicht beim Abschuss zu verletzen.

Ich spannte auf, bis meine Finger meine Wange streiften, kniff ein Auge zusammen, dann zielte ich so, dass der Pfeil direkt auf das Ziel zeigte. Einen Moment lang hielt ich noch inne, dann schoss ich.

Enttäuscht musste ich zusehen, wie der Pfeil in die vollkommen falsche Richtung flog und vor den zehn Metern, wo die Zielscheibe stehen würde, zu Boden ging.

Der Schuss war eindeutig in die Hose gegangen, deshalb nahm ich gleich den zweiten Pfeil. Bedacht, diesmal einen besseren Schuss zu erzielen, spannte ich so weit auf, dass die Pfeilfedern meine Wange streiften. Ich atmete ruhig, verharrte in ein und derselben Position. Wieder zielte ich, wieder kniff ich ein Aug zusammen, wieder zielte ich auf die Mitte der Scheibe.

Und wieder ging der Schuss meterweit daneben. Ich fluchte und überlegte fieberhaft, was wohl mein Fehler gewesen war. Zumindest war der Pfeil diesmal weit genug geflogen, um sein Ziel zu treffen.

Ich nahm einen dritten Pfeil und ging das, was ich bald tun werde, noch einmal ganz genau durch.

Noch in die Sehne einspannen, spannen, bis zum Ohr aufziehen, ein Auge zukneifen...Ich brach meine gedankliche Aufzählung ab, denn gerade war mir eingefallen was ich falsch gemacht hatte. Wenn der Pfeil für mich auf die Scheibe zeigte, zeigte er eigentlich in eine vollkommen andere Richtung und traf deshalb auch sein Ziel nicht.

Ich musste also eigentlich daneben zielen, um mein Ziel zu treffen. Ich ging in Gedanken noch einmal den vorherigen Schuss durch. Der Pfeil war viel zu sehr auf die linke Seite geflogen, also musste ich weiter nach rechts zielen.

Ich spannte den Pfeil ein. Diesmal zeigte die Pfeilspitze nicht auf die Mitte, sondern weiter nach rechts. Ich atmete noch einmal tief ein und aus, dann schoss ich. Mein Blick folgte dem Pfeil, bis er schliesslich in der Zielscheibe stecken blieb. Einen Moment lang konnte ich gar nicht fassen, dass ich tatsächlich getroffen hatte, aber dann war ich total begeistert und wäre am liebsten in die Luft gesprungen.

Ich schoss die anderen Pfeile auch noch. Manche trafen ihr Ziel, adere verfehlten es, aber keiner landete so weit davon entfernt wie die beiden ersten. Jetzt brauchte ich nur noch reichlich Übung.

Truth Rising | Die 51. HungerspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt