Willow Jane Osborn
Sonnenlicht wärmte mein Gesicht und brachte mich dazu aufzuwachen. Ich blinzelte verschlafen und rief mir den Schlaf aus den Augen. Mein ganzer Körper schmerzte noch von der morgendlichen Anstrengung.
Beverly. Meine Gedanken erinnerten mich sofort an alles, was geschehen war. Ich wandte mich um und sah zu Beverly, die noch immer an derselben Stelle lag wie am Morgen.
Sofort machten sich Sorgen in mir breit und ich ging näher an sie heran. Vorsichtig legte ich eine Hand auf die blasse, mit Schweisstropfen besetzte, Stirn. Erschrocken zuckte ich zurück, als ich spürte, wie heiss sie war. Beverly hatte ganz eindeutig Fieber. Das wusste ich ganz genau, obwohl ich mich ansonsten nicht mit Medizin und Ähnlichem auskannte.
«Beverly, wie geht es dir?», fragte ich.
«Ich weiss es nicht», antwortete sie mit matter Stimme. «Ich kann die Wunde nicht spüren, ist das gut?»
Mit schnellen Griffen löste ich den Verband um Beverlys Bauch und legte so die Wunde frei. Ich zog scharf die Luft ein, als ich sah, dass die Wunde sich entzündet hatte.
«Verdammt!», entfuhr es mir.
«Was ist los?», fragte Beverly und wollte sich aufsetzten. Ich hielt sie sofort davon ab und drückte sie zurück auf den Boden.
«Nicht», sagte ich, «Spar dir deine Kraft»
Ich wandte mich wieder ihrer Wunde zu. Völlig hilflos starrte ich auf die entzündete Wunde, die nun auch wieder zu bluten begann. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer was in diesem Fall zu tun war. Dazu hatte die Zeit im Trainingscenter nicht mehr ausgereicht.
Das Einzige, was mir nach mehreren Minuten des Überlegens einfiel war, dass ich die Wunde reinigen musste. Dazu brauchte ich Wasser. Sofort sah ich im Rucksack nach, doch ich konnte nichts finden.
«Beverly», sagte ich und sah zu Beverly, deren Atemzüge nun stockend gingen. «Ich bin gleich wieder da, ich muss nur ein wenig Wasser holen, um deine Wunde zu reinigen»
Ich wandte mich zum Gehen, doch Beverly berührte meinen Arm und brachte einen verzweifelten Laut hervor. «Nicht», sagte sie, als ich ihr den Blick zugewandt hatte. Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.
«Es wird nicht lange dauern, ich verspreche –«
«Nein», sagte sie wieder und sah mich mit ihren eisblauen Augen bittend an, «Ich möchte nicht alleine sterben»
«Du-du wirst nicht sterben», brachte ich stockend hervor. Mein Blick zuckte für einen kurzen Moment zu der blutenden, entzündeten Wunde. Ich nickte bestätigend.
Beverly schüttelte leicht den Kopf. Nun sammelten sich wieder Tränen in meinen Augen, denn mir wurden bewusst, dass es keinen Sinn hatte mich von etwas zu überzeugen, das nicht eintreffen würde. Ich wusste genauso gut wie Beverly, dass es nichts bringen würde die Wunde zu reinigen. Es würde nicht reichen.
Ich sank in die Knie und vergrub das Gesicht zwischen den Händen. «Nein», schluchzte ich, «Du darfst nicht sterben, Beverly, verstanden? Ich brauche dich, alleine kann ich das nicht»
Beverly bewegte ihre Hand auf mich zu und umgriff die meine. Ganz leicht drückte sie zu. «Ich glaube an dich, Kleine», sagte sie leise und sah mir tief in die Augen. «Wenn einer es schafft, dann du»
Ich wusste, dass sie log. Jeder hatte bessere Chancen diese Spiele zu gewinnen, als ich sie hatte. Ich war nicht dafür gemacht ums Überleben zu kämpfen, ich war nicht dazu gemacht durchzuhalten.
«Du musst weiterleben, Beverly!», flehte ich und drückte ihre Hand ganz fest, nahm ihre Kälte in mir auf. «Du musst einfach weiteratmen. Alles wird gut werden»
Weiter flossen die Tränen über mein Gesicht und ich schniefte unablässig. Mein Blick fixierte Beverlys Gesichtszüge, jede ihrer Bewegungen. Ihre Brust hob sich zitternd auf und ab. Die Bewegung war kaum zu erkennen.
«Bitte!», brachte ich hervor. Es war nicht mehr als ein Wimmern. Eine verzweifelte Bitte eines verzweifelten Mädchens.
Dann hörte Beverly auf zu atmen, rührte sich nicht mehr. Ihre Brust hatte aufgehört sich zu heben und zu senken. Ihr Blick starrte ins Leere, das Leben war aus den eisblauen Augen gewichen. Ich erkannte sie kaum wieder, denn sie schien auf einmal so anders auszusehen. So leblos.
Ich hielt inne. Hörte für einen Moment sogar zu atmen auf, sodass vollkommene Stille herrschte. Ich hielt mein Ohr vor Beverlys Gesicht und lauschte, doch ich konnte nichts hören, nichts spüren, denn sie atmete nicht mehr.
Meine Hände begannen zu zittern, mein Blick huschte von Beverlys Gesicht zu ihrer Wunde und wieder zurück. Immer wieder.
Dann durchschnitt mein Schrei die Stille, liess die Vögel von den Bäumen in den Himmel fliehen und erfüllte die Luft mit einem von Schmerz getränkten Klang, der einem durch Mark und Bein ging. Dicke Tränen bahnten sich ihren Weg über mein Gesicht, tropften in Mengen zu Boden. Ich raufte mir mit den zitternden Händen die Haare.
«Nein, nein, nein», sagte ich ungläubig. «Das kann nicht passiert sein, ich habe doch gerade noch mit dir gesprochen, du hast gerade noch gesprochen! Wach auf! Wach auf!»
Ich griff nach dem erst besten, das ich finden konnte und schmetterte es gegen die Wand des heruntergekommenen Zuges. Dann sackte ich in mir zusammen und endete als ein wimmerndes Etwas am Boden. Völlig aufgelöst. Am ganzen Körper zitternd.
Die Zeit zog an mir vorbei. Ich hörte nicht auf zu weinen, hörte nicht auf haltlos zu schluchzen, bis ich einfach nicht mehr konnte. Bis keine Träne mehr übrig war, die geweint werden könnte. Ich wischte mir mit dem Shirt die Tränen vom Gesicht.
Vorsichtig erhob ich mich und wagte einen Blick in Beverlys Richtung. Sie lag noch immer genau gleich da. Völlig reglos.
Ich erhob mich vorsichtig und verliess nach einigem Nachdenken den Zug. Doch ich blieb nicht lange weg. Nachdem ich so viel Efeuranken und Blumen gesammelt hatte, wie ich tragen konnte, kehrte ich zurück zu Beverly.
Ich verteilte die Efeuranken um Beverly, sodass es aussah, als würde sie von ihnen umschlungen werden, als würden die Ranken einen Arm um sie legen. Zusätzlich flocht ich einen Kranz aus den Blumen, den ich Beverly auf den Kopf legte. Dann erhob ich mich wieder und verliess nach einem letzten Blick auf Beverly den Zug. Diesmal endgültig.
Ich trat auf die Lichtung, die vor dem heruntergekommenen Zug lag. Tageslicht tauchte alles in goldenes Licht. Ich sah zum Himmel hoch und hob eine Hand mit angewinkeltem Daumen und Kleinem Finger in die Höhe.
«Ich werde dich niemals vergessen, Beverly», sagte ich gegen den Himmel und eine einzelne Träne floss mir über die Wange.
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Truth Rising | Die 51. Hungerspiele
Hayran KurguTeil 2 ᯽᯽᯽ »Warum sagen alle, dass man ehrlich sein soll, wenn man später dafür umgebracht wird, die Wahrheit aussprechen zu wollen?« Nur ein Jahr, nachdem Harper Thea Osborn zur Gewinnerin der 50. Hungerspiele gekürt wurde, trifft ein Schlag des Sc...