Willow Jane Osborn
Harmony reichte mir ihre Hand. Ich versuchte das Zittern meiner eigenen Hand zu unterdrücken, während ich Harmonys Hand ergriff und mich hochziehen liess. Sie klopfte mir freundschaftliche auf die Schulter.
«Alles gut bei dir?», fragte sie und schenkte mir ein freundliches Lächeln. Ich nickte, da meine Stimme wahrscheinlich schon beim ersten Wort versagt hätte. Vergeblich versuchte ich meinen schnellen Herzschlag mit tiefem Ein- und Ausatmen unter Kontrolle zu bringen.
«Wir sind beim Füllhorn fertig – kommst du mit?», fragte sie und deutete mit der Hand in die Richtung es Füllhorns. Wieder nickte ich. Bevor ich mich in Bewegung setzte, nahm ich den Speer vom Boden und folgte dann Harmony. Ich schaute nicht auf de Boden, denn da lag immer noch der tote Junge.
«Da bist du ja, Willow», rief mir Nuray zu, «Wir dachten schon, jemand hätte dich erwischt. Deshalb haben wir Harmony geschickt, um dich zu suchen»
Vielleicht hatte Harper dieses eine Mal tatsächlich nicht Recht gehabt, auch wenn ich mir sicher war, dass sie nur das Beste für mich wollte. Schliesslich hatten die Karrieros mir gerade das Leben gerettet. Wäre Harmony nicht gewesen, wäre mir von dem Jungen die Kehle durchgeschnitten worden.
«Danke nochmal», sagte ich zu Harmony und setzte ein leichtes Lächeln auf.
«Kein Ursache», sagte sie und lächelte zurück.
Nach einer Weile waren die Leichen derjenigen, die im Blutbad gestorben sind, abgeholt worden und ich konnte mich in Ruhe im Füllhorn umsehen. Vorher hatte ich nicht riskieren wollen, dass ich eine weitere Leiche zu Gesicht bekam. Die Kanone hatte sieben Schüsse erklingen lassen, was bedeutete, dass sieben Tribute schon aus dem Rennen waren.
Im Inneren des Füllhorns fand ich einen Pfeilbogen und einen Köcher mit vielen Pfeilen. Ich fragte meine Verbündeten, ob sie den Bogen brauchten und als sie verneinten, legte ich mir den Köcher um. Den Bogen trug ich in der Hand, damit ich mich etwas sicherer fühlte. Dazu steckte ich mir noch ein Messer in den Gürtel. Nur für alle Fälle.
Den Rest des Tages verbrachten wir damit, uns im Füllhorn und der Umgebung umzusehen und uns einen Lagerplatz zu suchen. Wir schlugen unser Lager schliesslich zwischen einer Gruppe aus Bäumen aus, die sich unmittelbar neben dem Füllhorn befanden.
Gemeinsam mit Nuray baute ich auf Holz eine Wand zwischen den Bäumen, die unser Lager umrundete und uns so beschütze. Als die Mauer stand, überdeckten wir sie mit Laub und Pflanzen, damit man es von Weitem nicht sehen konnte und wir vor Blicken der anderen Tribute bewahrt waren. Schliesslich schafften wir die nötigsten Vorräte und Waffen ins Lager, damit es nicht von anderen Tributen gestohlen wurde.
Die anderen waren währenddessen auf Erkundungstour und suchten nach einer Wasserquelle. Es gab zwar einige Wasserflaschen, aber eine Wasserquelle würden wir früher oder später trotzdem brauchen.
Als es schon zu dämmern begonnen hatte, kamen Titan, Harmony, Beverly, Roger und Khaos zurück und wir machten ein Lagerfeuer neben dem Füllhorn. Die Flammen loderten wild, während wir uns eine Suppe über dem Feuer kochten und sie schliesslich mit ein wenig Brot als Beilage verzerrten.
«Habt ihr jemanden angetroffen?», fragte Nuray und sah seine Verbündeten nacheinander erwartungsvoll an.
«Nicht die Bohne», antwortete Harmony, «die verkriechen sich alle oder sie bringen möglichst viel Abstand zwischen sich und das Füllhorn, da sie die Hosen voll haben»
Unweigerlich musste ich daran denken, dass ich es an der Stelle der anderen Tributen genauso machen würde. Ich würde mich auch verstecken oder Abstand zwischen mich und das Füllhorn bringen. Und dass ich Schiss hätte – sogar jetzt hatte, obwohl ich im stärksten Bündnis war – wollte ich nicht abstreiten.
«Etwas südlich von hier gibt es aber eine Wasserstelle», fügte Beverly hinzu. Ich fand ihre blasse Erscheinung immer noch unheimlich. Alles an ihr war weiss – die Haare, die Wimpern, sogar die Haut und die Augen waren unglaublich hell. «Ein fast komplett überwucherter Bach – ein Wunder, dass wir ihn überhaupt gesehen haben»
«Dann gehen wir morgen hin und holen uns einen Wasservorrat?», fragte Nuray an Beverly gewandt.
«Können wir», erwiderte sie, «Aber ich möchte auch nach anderen Tributen suchen, um meinem Sieg näher zu kommen» Bei diesen Worten blitzten ihre Augen und ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Wie konnte man nur so sein? Wie konnte man sich ein Spass daraus machen, andere zu verfolgen, um sie anschliessend zu töten?
«Gut, dann teilen wir uns auf», schlug Nuray vor.
«Na gut», willigte Titan ein, «Dann gehst du mit Roger und Harmony Wasser holen» Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust, seine Miene war bestimmt.
«Kann ich nicht auch mit euch mitkommen?», fragte Roger, «Ich kann euch doch helfen, die anderen Tribute aufzustöbern»
«Du hast hier nichts zu sagen, Fünf», knurrte Titan in die Richtung von Roger. Dieser zuckte leicht zusammen und sagte nichts mehr.
Jetzt wusste ich zumindest, dass die beiden Tribute aus Distrikt 5 und 9 wahrscheinlich nur hier waren, um die Drecksarbeit zu erledigen. Wenn es hart auf hart kommen würde, würden die Karrieros sie wohl einfach im Stich lassen. Ich wagte nicht daran zu denken, dass es bei mir auf dasselbe hinauslaufen könnte.
Nach dem Essen verzog ich mich in unser Lager, während die anderen noch beim Füllhorn blieben und Spasskämpfe veranstalteten. Ich verspürte nicht das Bedürfnis, mehr zu kämpfen als nötig und was daran spassig sein soll, wusste ich nicht.
Auf einmal fühlte ich mich total allein. Nicht nur, weil ich weit weg von zu Hause weg war und mir der Tod drohte, sondern auch, weil ich mich in einer Gruppe von Menschen aufhielt, mit denen ich nichts gemeinsam hatte. Absolut gar nichts.
Vielleicht hätte ich doch auf Harper hören sollen. Nicht, weil die Karrieros mir nicht helfen konnten, sondern weil ich meine letzten Tage dann wenigstens mit Menschen verbringen würde, mit denen ich reden konnte. Menschen, die auch nichts lieber wollten, als aus dieser furchtbaren Arena zu kommen.
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich morgen mit auf die Jagt nach Tributen gehen würde. Da würde ich mich nicht rausreden können, auch wenn ich aus einem Karriere-Distrikt kam. Ich hatte nämlich nicht vor, irgendetwas zu tun, das die Karrieros gegen mich aufbringen konnte. Das konnte ich mir nicht leisten.
Also würde ich morgen mitgehen. Und ich war mir sicher, dass die Karrieros mindestens einen anderen Tributen finden würden. Davor würden sie wohl nicht zum Füllhorn zurückkehren. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was sie mit dem Tributen tun würden. Und noch weniger wollte ich mir vorstellen, was sie mit mir tun würden, wenn sie mich nicht mehr brauchten.
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Truth Rising | Die 51. Hungerspiele
FanfictionTeil 2 ᯽᯽᯽ »Warum sagen alle, dass man ehrlich sein soll, wenn man später dafür umgebracht wird, die Wahrheit aussprechen zu wollen?« Nur ein Jahr, nachdem Harper Thea Osborn zur Gewinnerin der 50. Hungerspiele gekürt wurde, trifft ein Schlag des Sc...