Izmir führte ein völlig normales Leben so wie jeder andere in seinem Alter...na gut bis auf die Sache mit der Zombienonne hinter dem Wandschrank im Flur, aber da kann man ruhig drüber hinweg sehen. Sowas konnte schließlich jedem passieren.
Als Izmir an diesem Morgen Richtung Innenstadt stapfte, war der Himmel seltsam dunstig und braun, doch die Luft war klar und es versprach, ein schöner Tag zu werden. Leider würde er keine Zeit haben, ihn zu genießen, denn heute hatte er einen Test in SKM, der sonderbaren Kultur der Mitmenschen. Die "Mitmenschen" waren vor ein paar Jahren auf die Erde gekommen. So sagte man jedenfalls, denn niemand wusste den genauen Zeitpunkt ihrer Ankunft oder wie sie auf die Erde gekommen waren. Es gab viele Theorien. Die meisten waren so Abwegig wie die Umleitung zum Güterbahnhof, die vor Izmirs Haus vorbeiführte. Die Mitmenschen sahen tagsüber aus wie alle anderen Menschen, aber nachts wurden sie sonderbar. Izmir hatte noch nie einen Mitmenschen getroffen. Die meisten lebten nicht hier in der Stadt. Doch in der Schule hatte er gelernt, dass ihre Art zu denken eine ganz andere war und sie nachts oft Tiergestalten oder das Aussehen anderer myteriöser Kreaturen annahmen und dann gemeinsam um die Häuser zogen. Bei ihren Streifzügen waren sie oft unberechenbar. Wer aber ein Mitmensch war und wer nicht, ließ sich schwer feststellen, außer man wohnte direkt neben einem und bekam die Verwandlung mit. Auch der Straßenkehrer könnte ein Mitmensch sein und Izmir würde es nie erfahren.
"Guten Morgen!", grüßte Izmir freundlich. Er war schließlich ein gut erzogener Junge.
Der Straßenkehrer bewarf ihn wortlos mit Salamibrot.
Izmir ging weiter. Er war garantiert keiner von denen.
In der Schule ging Izmir sofort zu seinem Klassenzimmer. Seine Schule war früher mal ein Seniorenheim gewesen, doch nach einem Blitzschlag, der eine elektromagnetische Welle ausgelöst hatte, waren vielen Leuten die Herzschrittmacher stehen geblieben und man brauchte die Gebäude für die Schule, weil die Stadt dafür sonst zu wenig Fläche hatte. Izmir hatte die Welle damals miterlebt, aber er erinnerte sich schlecht, weil er noch zu klein war. Viele sagten, dass die Welle die Ankunft der Mitmenschen angekündigt hatte, doch dafür gab es keine Beweise. Man wusste nur, dass die Natur seit damals etwas aus dem Gleichgewicht geraten war.
Viel hatte sich aber auch nicht geändert und Izmirs Eltern waren der Meinung, dass alles so bleiben sollte wie es war.
Herr Mard, Izmirs Lehrer und der Leiter seiner Schule, hatte den Klassenraum schon für den Test vorbereitet und rieb sich eifrig die Hände, als die ersten Schüler eintrudelten. Izmir sank der Mut, als er diese Geste sah. Er tat sich immer schwer in SKM und Kultur war einfach nicht sein Thema.
"Sucht euch einen Platz und holt schonmal eure Stifte raus!", rief Herr Mard begeistert. "In fünf Minuten beginnt der Test!"
Izmir setzte sich und kramte in seinem Rucksack nach Stiften. Er fand einen, dessen Ende keine Zahnabdrücke hatte.
Lana kam rein und wollte sich neben ihn setzen, doch Herr Mard wurde sofort nervös. "Nein ihr müsst euch heute auseinander setzen!"
"Ist ja gut, jetzt chillen Sie doch mal Herr Mard!", beschwichtigte Lana ihn.
Izmir kannte Lana schon seit sie ganz klein waren, aber erst seit ungefähr zwei Jahren machten sie mehr zusammen. Er wusste nicht, warum er nicht schon früher mal mit Lana gespielt hatte. Wahrscheinlich weil sein Vater nicht wollte, dass sie zum Spielen kam, oder dass er lange wegging. Jetzt war er älter und konnte alleine zur Schule gehen und auch mal spontan eigene Entscheidungen treffen, ohne ständig fragen zu müssen. Der Klassenraum füllte sich langsam. Razdan fiel über eine Coladose und landete auf dem Stuhl direkt vor Herrn Mard.
"Gute Idee, dass du dich hier hinsetzen willst!", stimmte Herr Mard ihm zu. "Das hätte ich dir auch vorgeschlagen!"
Razdan murmelte etwas, das so ähnlich klang wie Korrekturensohn.
"Nun gut, ihr habt genau 20 Minuten Zeit für den Test. Wer länger braucht, muss seinen Bibliotheksausweis abgeben!"
Die Schüler murrten und machten sich widerwillig an die Aufgaben. Den Bibliotheksausweis abzugeben war keineswegs ein Anlass zur Freude für die Schüler, denn den Pass brauchte man nur für einen Teil der Bibliothek, der nicht allgemein zugänglich war und der nicht nur Unterrichtsinhalte und das Neue Wissen enthielt.
Das Neue Wissen war eine Reform, die die Regierung damals nach der Ankunft der Mitmenschen und den sonderbaren Phänomenen in der Atmosphäre eingeführt hatten. Auch die Lehrpläne der Schulen waren an das Neue Wissen angepasst worden. Herr Mard führte jedoch gemeinsam mit der Aktivlehrerin einen geheimen Bibliotheksabschnitt, den die Schüler nur mit ihrem Bibliotheksausweis betreten durften. Darin befand sich noch Altes Wissen und verschiedenste Werke, die an den Schulen nicht mehr gelehrt wurden.
Izmir machte sich an die Beantwortung der Fragen.
Nenne fünf Subkulturen der Mitmenschen.
Izmir überlegte. Er hatte gestern lernen wollen, aber war dann abgelenkt worden, weil sein Bruder Kazimir im Nebenzimmer Egoshooter gespielt hatte und Izmir dann zu ihm rüber gegangen war. Wenn man eine Antwort nicht wusste, konnte man auch einfach etwas erfinden oder raten. So machte Izmir es immer, denn vielleicht war ja doch etwas richtig. Er schrieb: Blau, Rot, Grün, Gelb, Orange.
Welche Erscheinungstheorie über die Mitmenschen ist am wahrscheinlichsten?
Das war eine Multiple-Choice-Frage.
a) Die Mitmenschen lebten auf dem Planeten, dessen Trümmer später zu den Saturnringen wurden und in einem Weltraumphänomen sind sie zu uns geschleudert worden.
b) Die Mitmenschen waren schon immer unter uns und tarnten sich jahrhundertelang als irgendwelche Leute.
c) Die Großkonzerne aus dem Alten Netz haben im Cyberspace eine Implosion ausgelöst.
Izmir überlegte gründlich, dann kreuzte er c an.
Woher kommt das Reptar?
Izmir erschrak und kippte vom Stuhl. Dabei schlug er seinen Kopf an der Stuhlkante an.
Herr Mard sprang auf. "Du meinte Güte! Ein Wissenssturz!" Er rannte zu dem Schrank in der Ecke des Klassenzimmers und holte eine Wasserflasche heraus. "Mit Izmir ist etwas nicht in Ordnung. Geben wir ihm VIO!"
Izmir trank langsam die Flasche leer. Sein Geist wurde erleuchtet und er setzte sich zurück an den Stuhl und beendete eifrig die Aufgaben. Herr Mard sah zufrieden zu.
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Die Ankunft der Mitmenschen
AdventureIzmir erlebt eine Zeit, in der die Gesetze der Welt sich wandeln das Alte und Neue Wissen sich vermischen.