Treffen am Morgen

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Im Flur der Büroetage war es ungewöhnlich ruhig, als Izmir zurückkam. Die Hälfte der Jungs war mit der GGM zur Bekämpfung der Mitmenschen ausgerückt. Doch ihm fiel noch etwas anderes auf; ein Gefühl der Beklemmung kombiniert mit einem kühlen Windhauch.
Er blieb im Türrahmen des Büros stehen. Dort bot sich ihm ein bizarrer Anblick. Auf dem Boden saß grotesk verrenkt und mit den Gliedmaßen auf den bunten Farbpunkten einer Gummimatte kauernd die Zombienonne und spielte mit Nora und dem Verwaltungsfachangestellten Rüdiger Twister.
"Jetzt ist Rüdiger dran!", rief Nora lachend und Rüdiger hüpfte aufgeregt wie ein kleines Kind auf die Gummimatte. Die Zombienonne fauchte und glitt von der Matte.
"Was geht hier vor?!", fragte Izmir. "Und was macht SIE hier!"
"Papa hat sie für mich aus den Trümmern geholt und mir dagelassen!", erzählte Nora stolz und zeigte auf den Kartoffelsack, der schlabbrig in der Ecke lag.
"Hast du den Brief eingeworfen? Spiel doch mit uns!", forderte Rüdiger ihn auf.
"Ja... Wie meinst das, er hat sie für dich aus den Trümmern geholt? Er hat mir immer gesagt sie darf auf keinen Fall in deine Nähe kommen!"
Nora lachte lustig. "Was?! Ich weiß schon seit Jahren von der Zombienonn..."
Izmir schlug die Tür zu, bevor sie das Wort zuende sprechen konnte und blieb ratlos stehen. Was sollte er jetzt tun? Er konnte doch nicht zulassen, dass die ganze Stadt von ihr erfuhr!
"Rot....blau...haha, daneben getreten!", hörte er seine Schwester von drinnen rufen.
"Komm du erstmal in mein Alter!", ächzte Rüdiger und die Zombienonne stieß düsteres Gelächter aus.

Die Nacht brach herein. Durch die Vorhanglamellen schien Mondlicht ins Büro. Rüdigers Computer blinkte und wechselte sich immer wieder mit dem Blinken des Feuermelders ab. Die Zombienonne hatte sich hinter ein Regal verzogen und war ruhig. Izmir hoffte, dass das auch so blieb. Er lauschte auf Noras gleichmäßigen Atem neben sich und langsam driftete er in den Schlaf. Pudding trat in sein Bewusstsein. Der cremige Nachtisch erschien vor ihm in riesigen Schälchen in allen möglichen Sorten und Schichtungen - Schoko, Vanille, Karamell, Erdbeere. Es gab schaumigen Pudding und Pudding mit Sahne. Izmir tunkte die Hand in den Karamellpudding und kostete. Es schmeckte herrlich! Genießerisch leckte Izmir an einer Puddingtorte und griff nach einer Dekokirsche. Gerade als er sie in seinem Mund zerplatzen ließ und der fruchtige Saft über seine Zunge rann, traf ihn eine neue Erkenntnis und er schrak aus dem Schlaf hoch. Die Puddingdimension verschwand und ihn umgab wieder das Halbdunkel des Büros.
"Die Mitmenschen!", flüsterte er. "Ich muss die Mitmenschen treffen!"
Er glaubte, Nora aufgeweckt zu haben, doch sie schlummerte weiter friedlich neben ihm. So leise und doch so schnell wie möglich, knüllte Izmir einige Kleidungsstücke und andere Habseligkeiten in seine Sporttasche. Dann kroch er aus dem Schlafsack und schlich zur Tür.
Eine Klaue strich über seinen Rücken. Izmir fuhr herum und sah in fahle Augen. "Wehe du krümmst meiner Schwester auch nur ein Haar! Sonst...sonst...werde ich dich anzünden!"
Die Zombienonne verzog sich wieder hinter das Regal. Izmir warf noch einen Blick zurück in den Raum, dann schlich er hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Im fahlen Licht der Straßenlaternen erreichte Izmir Razdans Haus. Er stürmte die Einfahrt hinauf und klingelte an der Tür. Aufgeregt wartete er auf Razdans Antwort, doch es blieb still. Die Fenster waren dunkel und nur eine Grille zirpte vom Nachbargrundstück hinüber. Izmir klingelte nochmal, diesmal mehrmals hintereinander, und hämmerte mit der Faust gegen die Tür. "Razdan!"
Er hörte Hundebellen und drinnen im Flur ging das Licht an. Hinter dem Glas sah er einen schwarzen Hund toben und seine spitzen Fangzähne schnappten Richtung Scheibe.
Izmir wich eingeschüchtert einen Schritt zurück. Endlich kam Razdan zur Tür geschlurft und öffnete völlig zerzaust. "Sssscccchhh, Chief!", sagte er zu dem Hund und sah Izmir verschlafen an. "Alter was willst du, es ist fünf Uhr morgens!"
Der Hund wollte Izmir anspringen, doch Razdan hielt ihn am Halsband fest.
"Ich will einem Mitmenschen begegnen!"
Razdan rieb sich mit der freien Hand die Augen. "Hä oke...also hier ist keiner, falls du bei uns einen suchst."
Izmir wich noch einen Schritt zum Treppengeländer zurück. "Das weiß ich, darum musst du mir helfen zu einem Ort zu kommen, wo Mitmenschen sind!"
"Was?"
"Wir müssen in die Nähe von Lyrasa, dort soll es viele Mitmenschen geben!"
"Was laberst du, mann? Warum willst du einem Mitmenschen begegnen?"
"Ich muss herausfinden wie die Mitmenschen wirklich sind und ob sie Schuld sind an all den Katastrophen! Dann können wir allen beweisen, ob sie Recht haben oder nicht! Bis jetzt gibt es doch nur Theorien und keiner weiß ob sie stimmen!"
"Na und?"
"Kommt es dir denn nicht manchmal so vor, als wäre alles sinnlos gewesen, was wir in der Schule gelernt haben?"
Razdan hatte sich zu seinem Hund runtergebeugt, um ihn besser festhalten zu können und der Hund schleckte ihm mit nasser Zunge übers Gesicht. "Ja klar, aber das ist doch voll normal."
"Interessiert es dich denn gar nicht, was die Wahrheit ist?!"
"Ja...schon, Izmir. Aber doch nicht um fünf Uhr morgens!"
"Also hilfst du mir jetzt?"
"Safe!"
"Dann weck deine Eltern und sag ihnen wir müssen nach Lyrasa fahren!"
Razdan legte sich im Hauseingang auf den Boden und ließ seinen Hund über sich drüber laufen. "Alter, hast du mir nicht zugehört oder so? Meine Eltern sind nicht da!"
Plötzlich erinnerte Izmir sich. Stimmt, Razdans Eltern waren ja weggefahren. "Aber wir brauchen jemanden, der uns fährt!"
"Yo, ich kann sie schon fragen aber die wären halt erst heute abend oder morgen da."
Izmir suchte nach einem Schimpfwort, doch sein Kopf war leer. "Oh nein!", sagte er einfach.
"Ey willst du reinkommen und mit mir WoW spielen?"
Izmir hatte plötzlich eine Idee. "Ich weiß, wen wir fragen können!"

"Hast du eigentlich Angst vor Hunden?", fragte Razdan, als sie im Halbdunkel durch die menschenleeren Straßen gingen. Izmir lief mit einigem Abstand auf der Straße entlang. "...nein.", sagte er.
"Musst du nicht haben, Chief ist voll das gechillte Hundi!"
Chief zerrte an der Leine und bellte eine Laterne an.
"Also meistens, haha!"
Sie erreichten eine Wohnsiedlung im äußeren Ring der Innenstadt, bzw was davon übrig war, denn als sie ankamen war dort ein Bauzaun um einen Bombenkrater aufgestellt worden und die Polizei sicherte mit Blaulicht den Unglücksort ab.
"Ey glaubst du die Nummer 40 ist dieser Metallklumpen da?", fragte Razdan und zeigte durch das Gitter.
Izmir riss entsetzt die Augen auf. "Hoffentlich kommen wir nicht zu spät!"
Sie gingen am Zaun entlang und stießen auf eine Menschentraube, die im flackernden Blaulicht auf dem Parkplatz ausharrte. Izmir sah Krankenwägen, Menschen in Rettungsdecken und hörte Kinder weinen. Ein Trupp in orangen Warnwesten teilte heißen Kaffee aus.
"Es gab doch gar keinen Alarm!", murmelte Izmir. Er ging an einer alten Frau vorbei, die auf dem Boden kniete und hysterisch heulte: "SIE HABEN UNS ALLES GENOMMEN!"
Eine Sanitäterin tätschelte ihre Schulter. "Jetzt beruhigen Sie sich doch! Immerhin hat Ihre Familie es raus geschafft, ist doch alles halb so schlimm!"
"WOHER WOLLEN SIE DAS DENN WISSEN, SIE WAREN NICHT DABEI?!"
Dann sah Izmir sie. "Frau Schlotterbeck!", rief er und rannte aufgeregt winkend auf sie zu.
Frau Schlotterbeck stand von einer Getränkekiste auf, auf der sie gesessen hatte. "Ihr beide schon wieder!" Sie wich vor Razdans Hund zurück, der sie bellend ansprang.
"Ey, Master Chief! Aus!", rief Razdan und zu Izmirs erstaunen ließ der Hund von ihr ab und setzte sich brav hin.
"Wir brauchen Ihre Hilfe!" Izmir erklärte ihr schnell sein Anliegen. "Razdans Eltern sind nicht da und wir brauchen jemanden der uns fährt!"
Frau Schlotterbeck schaute zu den glimmenden Trümmern hinter sich und dann wieder zu Izmir und Razdan. "Aha.", sagte sie nur.
"Helfen Sie uns?"
"Ja. Natürlich. Aber ich habe kein Auto."
"Vielleicht können Sie eins mieten!", schlug Izmir vor.
Sie musste lachen. "Ich habe auch keinen Führerschein. Braucht man hier in der Stadt einfach nicht. Bisher zumindest..."
"Oh." Izmir ließ enttäuscht den Kopf sinken. "Ich dachte alle Erwachsenen können Auto fahren."
"Äh was ist mit deinen Eltern, haben die ein Auto?", fragte Razdan.
"Nein." Erst jetzt fiel Izmir auf, dass er seinen Vater noch niemals in seinem Leben beim Auto fahren gesehen hatte. Er hatte immer gedacht sie könnten es sich nicht leisten, aber vielleicht konnte sein Vater überhaupt nicht fahren.
"Tja...", sagte Frau Schlotterbeck. "Ihr beide geht jetzt besser wieder. Hier könnte gleich noch mehr in die Luft fliegen.
"Moment! Es gibt vielleicht noch eine Möglichkeit!"

Izmir drückte auf die Klingel. Kurz geschah nichts, dann richtete die Überwachungskamera vor dem Haus sich surrend auf sie. Er winkte fröhlich.
Hinter den milchigen Fenstern ging Licht an, dann knackte es. Stück für Stück hob sich das Garagentor. In dem größer werdenden Spalt erschienen zwei plüschige Hausschlappen, dann eine flauschige Schlafanzughose mit Teddybär-Motiv, zwei Hände, die aus einem hellblauen Morgenmantel schauten und zuletzt ein fragender Gesichtsausdruck und blondes Haar.
"Lana!", rief Razdan.
"Was macht ihr denn hier?!"

"Fred?!", fragte Lana erstaunt. "Ihr wollt Fred fragen?"
Sie hatten sich um Lanas Wohnzimmertisch versammelt und Lana hatte eine Kanne Kaffee gekocht und ihnen Plätzchen angeboten. "Die sind noch von Weihnachten.", hatte sie gesagt.
Izmir fand auch, dass die Plätzchen ein bisschen nach früher schmeckten, aber er hatte noch nichts gefrühstückt und nahm sie gerne an.
"Fred steht doch sowieso nur sinnlos in deiner Garage rum."
"Schon, aber wenn er uns diesen Gefallen tut, dann bildet er sich vielleicht ein er könnte immer in der Garage bleiben. Und wir wollen ihn doch eigentlich raus haben!"
Razdan hielt mit der einen Hand Chief fest, damit er nicht in ein Aquarium springen konnte, mit der anderen fischte er in seinem Kaffee herum, weil er ein Stück Plätzchen darin verloren hatte.
"Oh ist da ein Fisch drin?", fragte Lana besorgt.
"Nee nee, alles gut."
"Das passiert hier manchmal, also sag ruhig bescheid..." Sie wandte sich wieder an Izmir. "Außerdem ist der Typ geisteskrank und sein Bus geht garantiert nicht mehr durch den nächsten TÜV!"
"Na und? Wir sind noch minderjährig! Wenn die Polizei uns anhält sagen wir einfach, er hätte uns entführt!"
Razdan lachte.
"Und Frau Schlotterbeck?"
Frau Schlotterbeck rührte ihren Kaffee um. "Macht euch wegen mir keine Gedanken. Wenn es die einzige Möglichkeit ist, dann kann ich euch sowieso nicht alleine mit so einem Typ fahren lassen."
Lana seufzte. "Na toll!"
"Also machen wir's?", fragte Razdan aufgeregt. "Kann ich dann noch kurz nach Hause und Snacks holen? Meine Eltern haben mir suuuper viel Essen dagelassen und wir können nicht ohne Snacks auf nen Roadtrip starten!"
Izmir kniff die Augen zusammen. "In Ordnung, aber beeil dich!"

Die Ankunft der MitmenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt