Abendbrot und die Philophysik

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Izmirs Vater kam verschwitzt und voller Staub zur Tür herein, als seine Mutter gerade das Essen auftischte. Izmir reckte den Hals. "Papa, da ist ein Paket für dich gekommen!"
Sein Vater wischte sich die Hände an einem Tuch ab. "Sehr gut!"
Nora saß auf ihrem Gummiball, den sie oft für artistische Übungen benutzte und hüpfte aufgeregt auf und ab. "Darf ich es aufmachen?", rief sie.
"Vielleicht später. Jetzt wollen wir essen!" Zorlob nahm am Tischende platz.
Ohne einen weiteren Kommentar entriss er Kazimir sein Handy, auf dem er bis eben gespielt hatte, und schmiss es hinter sich, wo es über die Sofakante donnerte und schließlich in der krüppeligen Topfpalme hängen blieb. Kazimir starrte seinen Vater fassungslos an. "Warum bist du so unberechenbar?"
Zorlob ging nicht darauf ein, denn er war bereits dabei, sich Essen auf den Teller zu schaufeln. "Ich bin schon kurz vor dem Durchbruch!", berichtete er und griff nach Noras Teller. Die anderen bedienten sich selbst.
"Dem Durchbruch in der Wand?", fragte Izmir.
"Nein nein. Ich teste verschiedene Materialkombinationen auf ihre Widerstandsfähigkeit. Diesmal habe ich fast fünf Tage gebraucht, aber bis Morgen komme ich durch!"
Wenn Izmir ehrlich war, wusste er nicht so ganz genau, was sein Vater eigentlich arbeitete. Früher hatte er mal bei einer Firma gearbeitet, dann war er lange Zeit als freischaffender Handwerker unterwegs gewesen und zuletzt hatte er einen Job bei der Bahn gehabt, wo er Weichen umlegen musste. Doch als die Umleitung vor ihrem Haus verlegt wurde, war ihm der Abstand zu seinem Beruf zu gering geworden und seitdem schlug er meistens in der Nachbarwohnung auf Gegenstände ein.
Seine Mutter kostete von ihrem geschmorten Gemüse und verzog das Gesicht. "Also das ist doch schon wieder viel zu salzig geworden! Und ein bisschen zu stark gekocht ist es auch!"
Zorlob fuchtelte mit seiner Gabel und schüttelte den Kopf. "So ein Unsinn! Es schmeckt köstlich!"
Sie lächelte ihn an. "Wenn du meinst."
Kazimir verdrehte die Augen.
"Sohn, hier wird nicht mit den Augen gerollt! Was hast du heute großartiges geleistet, hm?"
Kazimir grinste. "Ich hab heute beim Boxen voll das nice Girl kennengelernt!"
Das Besteck klapperte auf den Tellern. Nora schlürfte ihre Saftschorle. Izmirs Eltern sahen sich über den Tisch hinweg an. Seine Mutter sah zu Izmir. Er zuckte mit den Schultern.
"Ein Mädchen!", rief Kazimir ungeduldig.
"Ach sooo, na sag das doch gleich!", beschwerte sich seine Mutter.
"Du hast ein Mädchen kennengelernt?", fragte Zorlob.
"Ja, sie boxt auch."
Sein Vater gab eine Art Grunzgeräusch von sich und mampfte weiter sein Essen.
"Und du, Izmir?", fragte seine Mutter.
"Ich hab heute einen Test in SKM geschrieben, das war so schwer!", berichtete Izmir aufgeregt.
"SKM? Was war das nochmal?"
"Die sonderbare Kultur der Mitmenschen."
Sein Vater schnaubte. "So ein Unsinn! Früher haben wir in der Schule wenigstens noch was gescheites gelernt!"
"Ach Zorlob, die Zeiten ändern sich eben!", widersprach Izmirs Mutter. "Sag bloß du erinnerst dich daran, was du in der Schule gelernt hast."
"Natürlich! Astrophysik! Astrologie! Astronomie! Algebra!", rief Zorlob gereizt. "Das war noch echtes Wissen!"
"Das ist doch gar nicht wahr und das weißt du auch!" Bevor Izmir widersprechen konnte, hatte seine Mutter ihm den restlichen Pfanneninhalt auf den Teller gekratzt. "Du kannst das doch vertragen, Izmir!"
"Ich war mit Marie auf dem Spielplatz und wir haben eine große Sandburg gebaut!", mischte sich Nora ins Gespräch mit ein, um die Aufmerksamkeit von ihren großen Brüdern zu lenken.
Zorlob war plötzlich hochinteressiert. "Wirklich? Erzähl mir mehr davon!"

Am nächsten Morgen hatte Izmir sich mit Lana verabredet, um zur Schule zu gehen. Lanas Eltern waren geschieden und eigentlich wohnte sie bei ihrer Mutter, doch an manchen Tagen half sie ihrem Vater bei der Arbeit und dann schlief sie auf seinem Ausziehsofa und er kochte Nudeln mit Tomatensoße für sie. Darum hatten sie an solchen Tagen einen ähnlichen Schulweg.
"Was machst du eigentlich für deinen Vater?", fragte Izmir, als sie an der Ampel warteten.
Lana hatte keine Zeit gehabt, sich noch die Haare zu machen und strich sie hektisch zurecht, wobei ihre großen Ohrringe hin und her wackelten. "Och, meistens Bürosachen.", meinte sie. "Stempeln, tackern, Rechnungen erstellen und so."
"Und gibt er dir dafür Geld?"
"Ja, ein bisschen."
"Mein Vater würde mich nie helfen lassen!" Sie überquerten die Straße.
"Ich kann gut organisieren.", sagte Lana. "Er kann die Hilfe gebrauchen und ich bekomme ein bisschen Taschengeld."
Sie liefen auf dem Gehsteig am Park vorbei und betraten die Passage zur Innenstadt. Lana wollte noch zum Bäcker, um sich Essen für die Pause zu kaufen. Izmir wartete draußen auf sie. Er hatte schließlich noch sein Käsebrot von vor drei Tagen. Das würde ihm schon reichen.
An diesem Morgen war viel los in der Schule, denn es gab eine neue Regelung, in der Schulschwänzer morgens durch Aufsichtsbehörden von der Straße gekeschert und in die Schule gebracht wurden. Jeder sollte am Neuen Wissen teilhaben können, damit alle Kinder die Chance auf ein gutes Leben hatten. Ein ruhiges Leben, hatte es in den Nachrichten geheißen. Denn ein ruhiges Leben war ein gutes Leben. Izmir freute sich auf sein Leben. Er wusste noch nicht, was er später einmal machen würde, aber er wollte gern zu etwas in der Welt beitragen. Vielleicht wurde er ja mal Chirurg. Das wäre ein nützlicher Beruf. Seit der neuen Regelung kamen jedenfalls viel mehr Kinder in die Schule, darum war es jetzt so voll. Vielleicht musste die Schule sogar eine neue Klasse eröffnen.
An diesem Morgen hatten sie in der ersten Stunde Philophysik. Ein neues Fach des Lehrplans, das eine Mischung aus Physik und Philosophie war. Die Regierung war seit der Ankunft der Mitmenschen mit der Wissenschaft auf Kriegsfuß, da die Wissenschaft sich die Sache mit den Mitmenschen nicht so richtig erklären konnte. Seitdem hatte die Regierung beschlossen, dass niemand Sachen genau wusste und was einmal berechnet werden konnte und allgemein als Methode anerkannt war, konnte nicht immer gelten.
Darum musste man jetzt einfach selbst überlegen, was man als richtig ansah und so beschäftigten sie sich in Philophysik mit den unterschiedlichsten Fragen.
Frau Rau erhob sich von ihrem Pult, als alle sich in den kleinen Raum gezwängt hatten, der einmal ein Gemeinschaftsraum des Altenheims gewesen war.
"Guten Morgen, Kinder!", rief sie und ein paar murmelten aus Reflex: "Guten Morgen Frau Rau und alle miteinander!"
"Na das nenne ich mal eine ganz furchtbare Begrüßung! Das müsst ihr euch abgewöhnen!"
In der Klasse herrschte ratloses Schweigen. Frau Rau war um die 40, sah aber mit ihrer faltigen und gegerbten Haut schon viel älter aus. Außerdem trug sie stets lange, blickdichte Röcke und Strumpfhosen und gehäkelte Umhängetücher. Ihre Haare hatte sie mit einer eleganten Brosche hochgesteckt, während um ihren Hals vermutlich ihre komplette Schlüssselsammlung hing, die bei jeder Bewegung leise klirrte. Am markantesten war allerdings ihre Brille, deren winzige Gläser ihre Augen grotesk aus ihrem Gesicht hervortreten ließen und deren Bändel immer wild umherschlackerten, wenn sie den Kopf schüttelte.
"Nun, wer ist heute an der Reihe, eine These zu ziehen?", fragte sie in die Runde.
Der Junge am Tisch hinter Izmir reckte langsam seine Hand in die Luft.
"Simon! Komm nach vorne!"
Am Anfang des Jahres hatte jeder aus der Klasse eine These auf einen kleinen Zettel aufgeschrieben und dann waren alle Thesen in Frau Raus Glaskugel gewandert. Nun zogen sie meistens am Anfang ihrer Stunde eine These und diskutierten darüber.
Simon kam nach vorne und langte in die Glaskugel, die auf einem geklöppelten Deckchen auf dem Pult stand. Auf seinem Pulli prangte ein brennendes Skelett mit aufgerissenen Kieferknochen, in verzerrter Schrift war drumherum zu lesen: "My final breath"
Simon faltete den Zettel auf, den er gezogen hatte und las: "Gelb ist Blau."
Die Schüler begannen zu kichern und zu tuscheln.
Frau Rau nickte würdevoll und schickte Simon zurück auf seinen Platz. "Gelb ist Blau! Wer möchte dazu etwas sagen?"
Razdans Hand schoss nach oben.
"Ja, Razdan?"
Razdan drehte sich zu Simon um. "Also ich finde das kompletter Blödsinn! Man kann doch sehen, dass es zwei unterschiedliche Farben sind!"
Simon zuckte mit den Schultern und zeigte auf das Skelett auf seinem Pulli.
Marianne meldete sich. "Also ich finde da ist schon etwas dran, schließlich sind Farben ja nur ein Gemisch aus den drei Grundfarben und somit nur ein Gemisch von einander."
"Blau und Gelb sind Grundfarben, du Opfer! Hast du in Kunst nicht aufgepasst?", pöbelte Razdan sie an und Marianne begann zu heulen. Sie war etwas empfindlich.
"Razdan, lass uns respektvoll bleiben!", mahnte Frau Rau.
"Blau ist Rot!", rief Simon.
"Gar nicht wahr!", Razdan bewarf Simon mit seinem Federmäppchen. Simon sammelte es zufrieden vom Boden und steckte es ein.
"Jungs, benehmt euch! Eine gepflegte Diskussion gehört zur Fähigkeit jedes intelligenten Erwachsenen dazu! Jeder darf hier seine Ansichten kundtun, ohne dafür angegriffen zu werden. Lana, was möchtest du sagen?"
Lana nahm ihre Hand runter. "Ja, also ich wollte nur sagen, dass ja nicht alles so ist, wie wir es wahrnehmen. Farben sind zum Beispiel lediglich eine Reflektion und Brechung des Lichts und wir nehmen die Farben so wahr, wie unsere Augen sie verarbeiten. Manche Leute sind Rot Grün blind und manche Tiere sehen gar keine Farben oder nehmen sie ganz anders wahr, als wir. Darum finde ich die Aussage ˋBlau ist Gelbˋ unter Umständen gar nicht so falsch, wenn man sie aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet."
Razdan starrte Lana verständnislos an.
"Richtig, Lana. Ich stimme dir zu.", sagte Frau Rau. "Und genau aus diesen verschiedenen Blickwinkeln heraus mag für manche Blau Gelb sein, für andere aber nicht. Wer vertritt Lanas Meinung nicht?"
Ein paar Kinder meldeten sich.
Izmir schloss sich Lanas Meinung an, obwohl er nicht richtig verstanden hatte, was sie meinte. Doch Lana hatte meistens Recht.
"Gut. Simon, was möchtest du nun zu der These sagen, die du gezogen hast?", fragte Frau Rau.
"Blau ist Rot.", wiederholte Simon.
"Auch diese Ansicht ist vertretbar. Ich meinte, welchen Schluss ziehen wir aus der These und unserer Diskussion?"
"Dass Leute andere Meinungen haben.", sagte Simon.
"Nicht nur das. Es gibt verschiedene Wahrnehmungen von Dingen, wie zum Beispiel den Farben. Eure Ansichten müssen also nicht allgemeingültig sein."
Simon machte eine Kaugummiblase.
Frau Rau zeigte erbost auf ihn. "Das spuckst du sofort aus, junger Mann!"
"Ich hab keine Kaugummiblase gemacht!", verteidigte sich Simon.
"So? Was war es dann, was du gemacht hast?"
"Ich hab nur den Mund auf und zu gemacht und Sie haben eine Kaugummiblase gesehen!"
Frau Rau richtete ihre Brille. "Wer ist der Ansicht, dass Simon eine Kaugummiblase gemacht hat?"
Die meisten hoben die Hände.
"Die meisten haben es auch gesehen. Der Klassensprecher sollte nun entscheiden, welcher Theorie er glaubt und was die Konsequenzen sein sollen!"
Razdans Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. "Er soll den Kaugummi ausspucken, weil er mein Federmäppchen geklaut hat!"
Simon ging zum Mülleimer und spuckte den Kaugummi aus.
"Wer die Macht hat, der entscheidet.", erklärte Frau Rau. "Ganz egal, was die Mehrheit denkt."
Sie wartete, bis Simon wieder auf seinem Platz war.
"Wir wollen nun eure Aufsätze vom letzten Mal korrigieren!" Sie holte einen Stapel Papier aus ihrer Tasche. "Wie angekündigt habe ich wieder gewürfelt und so für jede Arbeit den Fokus meiner Korrektur bestimmt. Wenn ihr euch die Arbeit angesehen habt, möchte ich, dass ihr ebenfalls eure Einstellung auf meine Korrektur würfelt und basierend auf dieser eine Seite mit Argumenten schreibt, in denen ihr meine Korrektur anprangert. Sollte eure Einstellung dem Fokus meiner Korrektur entsprechen, möchte ich, dass ihr eine Seite über eure Gefühle beim gestrigen Abendbrot verfasst."
Izmir hoffte, dass die Korrektur und seine Einstellung nicht übereinstimmen würden.

Die Ankunft der MitmenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt