"Tomaten!" Izmir schrak aus dem Schlaf hoch und blickte in das grinsende Gesicht seiner Schwester. Die Sonne schien bereits zum Bürofenster herein. Der Verwaltungsfachangestellte Rüdiger hatte ihnen freundlicherweise einen Schlafplatz neben dem Faxgerät zugewiesen, so mussten sie nicht mehr mit den anderen im Lagerraum schlafen. Rüdiger war bereits bei der Arbeit und Izmir hörte leises Gemurmel und Mausklicken von seinem Schreibtisch.
Langsam sah Izmir an sich herunter. Seine Schwester packte immer noch grinsend ihre Nagellackfläschchen ein. Während Izmir schlief hatte sie das Fußende seines Schlafsacks geöffnet und ihm die Zehennägel lackiert. In leuchtendem Pink strahlten sie Izmir entgegen.
"Boah Nora, warum hast du das gemacht?! Jetzt denken die anderen doch erst recht ich wäre schwul!"
Nora sah ihn unschuldig an. "Warum willst du denn nicht, dass sie das denken?"
"Weil ich nicht schwul bin!"
Sie kniff die Augen zusammen. "Hmmmm..."
"Ist das jetzt dein Ernst?!" Er wollte in Noras Tasche nach Nagellackentferner wühlen, doch in diesem Augenblick hörte er Schritte und Stimmengewirr auf dem Flur.
"Izmir?" Die Stimme seines Vaters!
Izmir und Nora standen auf und liefen in den Flur, wo sich gerade ein Trupp der GGM-Mitarbeiter zum Aufbruch bereit machte. Sein Vater half Karl dabei, Kisten mit Proviant im Flur zu stapeln.
"Wo geht ihr hin?", fragte Izmir.
"Wir werden ausziehen, die Mitmenschen zu bekämpfen. In der Nähe des Ortes Lyrasa wurde eine Hochburg der Mitmenschen ausfindig gemacht. Wir werden uns dorthin begeben, um sie zurückzudrängen!"
Izmirs Augen weiteten sich. Nora zupfte an einem Stück loser Tapete.
"Wir werden nicht lange fort sein. Kazimir und einige andere Jungs, die das nötige Training haben, werden mit uns kommen. Ich möchte, dass du auf deine Schwester aufpasst!"
"Aber...aber das ist nicht fair! Du bist kaum hier!"
"Ich weiß, dass es schwer für dich wird. Doch in diesem Krieg müssen wir alle Opfer bringen!"
"Darf ich dann ein Eis haben, wenn Papa weg ist?", fragte Nora.
"Sch!", Izmir wies auf ihren Vater, der genau vor ihnen stand und alles hören konnte. Nora zuckte nur mit den Schultern.
Karl tauchte hinter ihrem Vater auf. "Es sollte nicht lange dauern. Die Mitmenschen erwarten uns nicht und es wird einfach sein, sie zurückzudrängen!"
Der Junge mit dem Bart trat aus einem Zimmer.
"Josiah, du kannst diese Kisten noch runter zum Bus tragen!"
Josiah hieß der Junge also. Izmir hatte nie seinen Namen erfahren. Im Vorbeigehen fiel sein Blick auf Izmirs Zehen und seine Lippen formten ein verächtliches Schmunzeln. Doch vermutlich dachte er an seinen Bart und blieb deswegen stumm.
"Dir kommt eine wichtige Aufgabe an der Heimatfront zu Teil, Izmir. Sorge für Nora und deine Mutter, bis wir wiederkehren!" Dann latschte er davon.
"Ich kann sehr gut für mich selbst sorgen!", beschwerte sich Nora. Sie langte an das Ende eines Kabels, das aus der Wand ragte und zuckte zurück. "Aua!"
Izmir seufzte. "Komm, wir holen jetzt erstmal dein Eis!""Ich habe einen Pullover für dich gestrickt!" Seine Mutter holte ein wolliges Bündel unter ihrer Bettdecke hervor und hielt es gegen das Licht. Ein blau-weiß gestreifter Pullover in feinem Rippenmuster kam zum Vorschein.
"Oh...danke!", zwang Izmir sich zu sagen. "War dir das nicht zu viel mit deinen Verletzungen? Ich dachte du sollst dich ausruhen?"
"Ach nein, es wird mir doch langweilig.", sagte sie.
"Aaaaaah...", röchelte die Frau im Nachbarbett. Sie hing halb über ihrer Bettkante und versuchte mit einer Hand ein Tablett mit Spritzen zu erreichen.
"Probier ihn doch mal an!", forderte seine Mutter Izmir auf.
Izmir griff langsam nach dem Pullover, doch kurz bevor seine Hand den flauschigen Stoff erreichen konnte, blieb sie in der Luft hängen. Izmir konzentrierte sich, doch er konnte sich einfach nicht überwinden. Nach einigen unangenehmen Momenten nahm er den Arm herunter und senkte beschämt den Kopf.
"Oh.", machte seine Mutter und Erkenntnis trat in ihre Augen. "Der Tag ist also gekommen. Mein Izmir ist zu cool für seine Mutter!"
"Nein...", stotterte Izmir. "Es ist nicht deswegen...der Pullover ist wirklich...schön!"
"Jaja!", sie winkte lächelnd ab. "Du magst den Pullover nicht, ich verstehe schon!"
Izmir fühlte sich schlecht. "Aber du hast dir so viel Mühe gegeben!"
"Ach ja. Du musst kein schlechtes Gewissen haben, Izmir. Bei jedem Kind kommt der Tag, an dem es seine Eltern verleugnet und eigene Wege geht. Und nach einiger Zeit beginnt es, seine Eltern so zu sehen, wie sie wirklich sind; zwei Menschen mit Stärken und Schwächen."
Izmir sah seine Mutter verzweifelt an. "Ich will dich nicht verleugnen! Du bist doch meine Mutter!"
"Natürlich!" Sie streckte eine Hand nach ihm aus und Izmir ergriff sie. "So wird das auch immer bleiben, aber du wirst älter und selbstständig und irgendwann bist du dein eigener Herr. Das ist ganz normal. Bei Kazimir war es genauso."
"Ich will aber nicht so werden wie Kazimir!"
"Du musst nicht werden wie Kazimir. Du gehst deinen eigenen Weg." Sie lächelte ihn an. "Vielleicht können wir Nora den Pullover geben. Er wird ihr ein wenig zu groß sein, aber sie kann ja reinwachsen!"
Nora trat begeistert vor und ließ sich den Pullover überstülpen. Er war ihr viel zu groß, doch sie freute sich. "Er ist so flauschig!"
"Wir haben dir was zu essen mitgebracht!", sagte Izmir und drückte seiner Mutter eilig die große Papiertüte in die Hand.
Sie öffnete die Türe. "Oh, großartig! Das Krankenhausessen hier ist wirklich abscheulich, das wird jeden Tag aus den tiefsten Tiefen der Gefriertruhe ausgegraben!" Sie packte einige Sandwiches und Obst aus. Unten waren noch Naschereien und Kekse.
"Die Kekse hat Frau Schnobrig gebacken, sie meinte sie hat eine Geheimzutat reingemacht!", rief Nora.
"Mmm, ich verstehe!"
Die Frau nebenan hatte aufgehört zu röcheln und nach den Spritzen zu greifen und starrte jetzt gierig auf das Essen.
Izmirs Mutter bemerkte es. Sie nahm einen Apfel und warf ihn zu ihr hinüber. "Fang!", forderte sie die Frau auf, doch ihre Reaktion kam zu spät und der Apfel rollte über den Boden.
"Das ist Barbette. Ich nenne sie auch Nachbarbette.", erklärte sie.
Nora warf ein Sandwich nach der Frau und es landete neben ihr auf dem Bett. Die Frau neigte dankbar den Kopf und verschlang das Sandwich.
"Barbette redet nicht so viel, deswegen kann man gut mit ihr Gespräche führen."
Ein Arzt erschien in der Tür. "Die Besuchszeit ist jetzt vorbei. Bitte erfreuen Sie uns gern ein andermal mit Ihrem Besuch!", sprach er seinen einstudierten Text.
"Papa ist mit Kazimir weggegangen zum Mitmenschen bekämpfen.", erzählte Izmir.
"Na sowas. Hat er nichts zu tun?" Sie erinnerte sich an seine Tätigkeiten zu Hause und zuckte mit den Schultern. "Ich darf hoffentlich bald aus dem Krankenhaus raus. Dann müsst ihr nicht mehr bei Rüdiger im Büro schlafen."
"Oh ja bitte! Nora hat mir im Schlaf die Zehennägel lackiert!", rief Izmir entrüstet.
Nora lachte diabolisch.
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Die Ankunft der Mitmenschen
AventuraIzmir erlebt eine Zeit, in der die Gesetze der Welt sich wandeln das Alte und Neue Wissen sich vermischen.